: Wenn niemand Panzer kauft
In Rußland fand sich die Rüstungsindustrie von jetzt auf gleich ohne Aufträge wieder / Kühlschränke und Möbel sind keine High-Tech-Produkte ■ Von Petra Opitz
Berlin (taz) – 1992 war ein hartes Jahr für die russische Rüstungsindustrie: Die Regierung kürzte die Aufträge um 80 Prozent. Obwohl die meisten russischen Waffenschmieden bereits in der Vergangenheit auch zivile Güter produziert haben – für Fernsehgeräte, Videorecorder, Kühlschränke, Waschmaschinen und Staubsauger hatten sie nahezu eine Monopolstellung –, gelang eine Konversion im großen Stil nicht. Es fehlte nicht nur an Zeit und Geld für die Umstellung auf zivile Massenproduktion. Vor allem veränderten sich durch die beschleunigte Wirtschaftsreform in Richtung Marktwirtschaft sämtliche Koordinaten von Produktion und Absatz schlagartig.
Zulieferbeziehungen rissen ab, Material- und Energiekosten stiegen um das Zehn- bis Zwanzigfache, und die Nachfrage nach zivilen Gütern blieb gering. Die Inflation erreichte in Rußland 1992 etwa 2.600 Prozent, während die Industrieproduktion um 18 Prozent und die Investitionen sogar um 45 Prozent gegenüber dem Vorjahr absanken – und 1993 ging es nicht bergauf. Rüstungsunternehmen, deren zivile Güter noch 1991 zu Mangelwaren gezählt hatten, blieben ein Jahr später auf einem Großteil ihrer noch immer auf die gleiche Art produzierten Erzeugnisse sitzen.
Auch das Geld aus den mageren Staatsaufträgen kam nur schleppend oder gar nicht bei den Betrieben an. Dementsprechend konnten sie wiederum ihre Lieferanten nicht bezahlen, was eine endlose Verschuldungskette zwischen den Firmen zur Folge hat. Fast alle Unternehmen stehen am Rande des Ruins. Um Massenentlassungen zu verhindern, zahlt der Staat Kurzarbeitergeld und Subventionskredite.
Zwei Jahre wurden die Beschäftigten der Rüstungsindustrie darüber im unklaren gelassen, wie sich die künftige Militär- und Beschaffungspolitik Rußlands entwickeln würde und welche Rolle ihrem Unternehmen dabei zugedacht war. Zugleich mußten die Betriebe trotz der enormen Kürzungen fast alle Maschinen für das gesamte Sortiment an Rüstungsgütern weiter vorhalten. So waren die Kapazitäten nicht ausgelastet, und die Verluste wuchsen ständig. Konversion wurde damit zur zusätzlichen Aufgabe ohne zusätzliche Mittel und unter erschwerten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen.
Viele Unternehmen versuchten, durch kurzfristige Aufträge, Verpachtung von Ausrüstungen und Immobilien sowie durch den Ausverkauf ihrer Vorräte an hochwertigen Materialien zu überleben. Entlassungen gab es hingegen kaum. Junge und hochqualifizierte Mitarbeiter aber suchen sich oft lieber einen anderen Job, weil sie vor allem im privaten Dienstleistungsgewerbe ein Vielfaches verdienen können.
Partielle Konversionserfolge gibt es dennoch – dort, wo die Umstellung auf zivile Produktion technisch relativ einfach ist und es zugleich Absatzmärkte im Westen gibt. Das betrifft vor allem Luft-, Schiff- und Raumfahrt sowie die Kommunikationstechnik.
Für das St. Petersburger Unternehmen „Baltische Fabrik“ waren die Erfahrungen, die es bis in die siebziger Jahre im zivilen Schiffbau gesammelt hatte, der Ausweg. Obwohl Produzent von Schlachtschiffen, Fregatten, Minenlegern und U-Booten schon seit der Zarenzeit, hatte der Betrieb nach 1925 auch zivile Tanker, Trockenfrachter und Forschungsschiffe gebaut – und die mußten ja auch mit Tischen und Schränken ausgestattet werden.
Nachdem 1989/90 der Anteil der Rüstungsproduktion noch 80 Prozent am Gesamtumsatz des Unternehmens betragen hatte, lag 1992 kein einziger Auftrag mehr für Schlachtschiffe und Atomeisbrecher vor. Selbst der halbfertige Atomkreuzer „Peter der Große“ konnte wegen Geldknappheit im Verteidigungsministerium nicht zu Ende gebaut werden. Da erwies sich die zivile Möbelproduktion zunächst als einziger lebensfähiger Unternehmensbereich. Die knapp 600 Möbelbauer aber konnten den Schiffbaukonzern mit 10.000 Beschäftigten auf Dauer nicht über Wasser halten. Mehr als 3.000 Beschäftigte verließen daraufhin den Betrieb.
Zum Glück für den St. Petersburger Betrieb gingen später einige Aufträge westlicher Firmen ein. Die Produktion einer Serie von Tankern für Flüssigchemikalien und von Roll-on-roll-off-Schiffen für die Bundesrepublik Deutschland, Norwegen und Österreich sicherte das unmittelbare Überleben des Unternehmens – und seinen Ausstieg aus der Rüstungsproduktion.
Gegen den Widerstand des Komitees für die Verteidigungsindustrie hat die „Baltische Fabrik“ bei der russischen Regierung ihre Privatisierung durchgesetzt. Die Beschäftigten halten 51 Prozent der Aktien, 15 Prozent verbleiben zunächst in treuhänderischer Verwaltung, und der Rest wird über eine Auktion verkauft. Die Angestellten hatten sich ausgerechnet, daß die Chancen, Geld aus dem Westen aufzutreiben, nach einer Umstellung auf Zivilgüter und einer Privatisierung wesentlich günstiger seien. Um als Schiffbaubetrieb konkurrenzfähig zu werden, brauchen sie 80 Millionen Dollar.
Die Chance für das Unternehmen liegt neben der rein technischen Modernisierung auch in einer Kooperation mit westlichen Firmen. Von dort können sie westliche Unternehmensorganisation lernen, um in stabileren Zeiten auch fürs Inland kostengünstig produzieren zu können.
Unumgänglich ist die Neustrukturierung und Kommerzialisierung des gesamten Konzerns. Einzelne Betriebsteile müssen ausgegliedert werden. Noch ist unklar, ob der Personalwechsel in der obersten Chefetage ausreicht, um das vorherrschende technizistische Denken – „lediglich entsprechende Aufträge müssen her, um unsere vorhandenen einmaligen Kapazitäten auslasten zu können“ – zu überwinden und die streng hierarchischen Strukturen aufzulösen.
Denn Konversion bedeutet vor allem Konversion der innerbetrieblichen Strukturen und des Managements. Die Mehrheit der russischen Unternehmensführungen schreckt vor solchen grundsätzlichen Schritten zurück – zum Teil aus Angst vor Prestige- und Machtverlust. Aber auch der nach wie vor hohe Monopolisierungsgrad der Wirtschaft hält sie häufig davon ab, denn nur wenige Rüstungsunternehmen befinden sich in einer so relativ günstigen Lage wie die „Baltische Fabrik“.
Die Konversionseuphorie der letzten Jahre ist vorüber. „Das Wort Konversion sollte man vergessen und endlich gesamtnationale Aufgaben lösen.“ So kommentierte die russische Presse im letzten Jahr die Wende in der Konversionsdiskussion. Gefordert wird, die Exportkapazitäten der Rüstungsindustrie als nahezu einzigen weltmarktfähigen High- Tech-Bereich zu forcieren. Aus den Gewinnen könnte dann, so die Meinung der Verfechter, die Konversion finanziert werden. Das Konzept ist in vielerlei Hinsicht fragwürdig: Denn die meisten Rüstungsunternehmen verfügen gar nicht über exportfähige Endprodukte. Für sie bleibt nur die Alternative Diversifikation und Konversion – oder Schließung.
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