: Winter in Washington Von Andrea Böhm
Es hat geschneit. Das ist in Anbetracht der Jahreszeit ein höchst banaler Satz. Hier, in Washington, ist es völlig egal, ob es im Mai, August oder Januar schneit. Die BürgerInnen dieser Stadt benehmen sich jedes Mal, als ob die Invasion aus dem Weltall bevorsteht. Wir befinden uns zugegebenermaßen hier in wärmeren Regionen. Wer einen Washingtoner Sommer überlebt, darf sich getrost als tropentauglich einstufen. Silvester 1992 feierten wir hier bei zwanzig Grad im T-Shirt – und Anfang Dezember konnte ich zuweilen das Abendessen unter freiem Himmel einnehmen. So etwas darf ich zu Hause, unter dem aschgrauen Himmel über dem aschgrauen Berlin meinen aschgrauen Verwandten und Bekannten gar nicht erzählen.
Nun bewahrt der Umstand, vom Schicksal einem wärmeren Breitengrad zugeteilt worden zu sein, die Stadt Washington nicht vor der Möglichkeit des Schneefalls. Und sobald die Schneedecke höher als zwei Zentimeter liegt, sind die Washingtoner versucht, von einem Blizzard zu sprechen. In anderen Städten dieser Erde würden sich Jung und Alt die Flocken auf der Zunge zergehen lassen, in Washington räumen sie in den Supermarktregalen die Wasserkanister und Dosensuppen ab, kaufen innerhalb eines Vormittages den regionalen Bestand an Schneeschaufeln, Sandtüten, beheizbaren Decken, Taschenlampen, Schneeketten, Sauerstoffmasken, Nebelkerzen und Erste-Hilfe-Koffern auf und decken sich in der Videothek mit Filmen für ein halbes Jahr ein. Mensch weiß ja nie, wie lange sich das weiße Zeugs da draußen hält. Die Washington Post dient – neben dem Lokalfernsehen – in solchen Tagen als Nabelschnur zur Außenwelt und liefert überlebenswichtige Tips: warm anziehen; Schnee und Eis von der Autoscheibe abkratzen, bevor man startet; Schnee schaufeln – aber richtig: „Erst ein paar Dehnübungen, Arme beim Schippen immer leicht anwinkeln, Knie gebeugt halten, nicht zuviel Schnee aufladen, um Arm- und Schultermuskeln zu schonen.“ Soziologisch betrachtet, hat diese Notstandsatmosphäre eine durchaus positive Funktion. Die Washingtoner hassen zwar den Schnee, lieben aber, wie die meisten Amerikaner, dieses Stimmungsgemisch aus Krise und Ausnahmezustand, das die Naturgewalten schaffen. Womit keineswegs gemeint ist, daß sich hier irgend jemand am Elend der Floridianer mit ihren Hurricans oder der Farmer im Mittelwesten mit dem Hochwasser dieses Sommers ergötzt. Im Gegenteil: Mensch rückt am Fernseher zusammen, leidet mit, spendet oder verbringt gar seinen ganzen Jahresurlaub am Mississippi, um mit wildfremden Menschen Sandsäcke vollzuschippen (immer schön mit gebeugten Knien und angewinkelten Armen). Das Wetter ist in Amerika ein sporadisch auftauchender Ersatz für die last frontier geworden.
In der Hauptstadt beginnt diese Mobilisierung für den Ausnahmezustand, wie gesagt, nach einem mittelprächtigen Schneefall. Dann schließen die Bundesbehörden, der Zoo macht dicht, und die Schule fällt aus. Polizisten werden mit Frostbeulen eingeliefert, weil sie Washingtoner Sprößlinge retten müssen, die, statt in die Schule zu gehen, auf der nur unzureichend gefrorenen Decke des öffentlichen Schwimmbades herumrutschen. Die Eislaufbahn ist nämlich auch geschlossen. Wegen Frost.
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