Lerne klagen, ohne – sehr – zu leiden

Ungarns neue Wirtschaftselite macht ihren Weg und muß dabei allerlei Hindernissen trotzen  ■ Aus Budapest Keno Verseck

Wer die Redaktion des Elite-Magazins besucht, der muß, obgleich sie sich mitten auf dem Rosenhügel – dem Viertel der wohlhabenden Budapester – befindet, die Kellertreppe eines Fünfziger-Jahre-Mietshauses hinabsteigen. Es gibt hier, im Souterrain, meistens nur künstliches Licht. Eine von Natur aus pikiert wirkende Dame und ihr Kapotthütchen haben die beiden Stühle des Gästetisches besetzt und sind nicht ohne weiteres bereit, die einmal eroberte Position aufzugeben. Der Redaktionshund, ganz nach der letzten Mode frisiert, zerfetzt wollüstig Papiere und eine schon angebissene Paprikaschote. Das Malheur wird von einer nicht minder modischen Redaktionsassistentin beseitigt.

Éva Körtvélyes, 38, die Eigentümerin, Managerin und Chefredakteurin des Magazins für Lifestyle, hat selbst wenig Zeit, denselben zu pflegen. Sie gehe nach vierzehn bis achtzehn Stunden Arbeit lieber schlafen, sagt sie. In ihrer monatlich erscheinenden Hochglanzzeitschrift (Auflage: 20.000 Exemplare) werden dagegen prominente und unternehmerisch erfolgreiche Ungarn und Ungarinnen porträtiert, die auf Stil viel Zeit und noch mehr Geld verwenden.

Éva Körtvélyes bestimmt zwar, wer in die Elite kommt. Aber wer die ökonomische Elite im heutigen Ungarn bildet – das kann sie nicht sagen. Es liegt weniger daran, daß das Magazin keine soziologischen Ambitionen hegt. Sondern mehr daran, daß es bereits viel zu viele erfolgreiche Unternehmer unterschiedlicher Herkunft gibt, als daß sie sich noch schnell und einfach klassifizieren ließen. In dem Zehn- Millionen-Land hat sich eine Unternehmerschicht mit mehreren hunderttausend Angehörigen herausgebildet.

Ihre Vertreter treffen sich an diesem Tag im Platánus-Hotel. Es liegt in der verrufensten Gegend der ungarischen Hauptstadt – im 8. Bezirk. Da, wo sich, wie die Budapesterinnen und Budapester meinen, allerlei verdächtiges Gesindel herumtreibe: Huren, Räuber, Obdachlose und Tagediebe. Der ungarische „Landesverband der Unternehmer“ (VOSZ) hat die weiße, marmorne Villa an der teuren und sanft ansteigenden Seite des Budapester Gellért-Hügels vorläufig mit der ersten Etage im Platánus-Hotel eingetauscht. An diesem Tag ist Jahressitzung.

János Palotás, 38, Unternehmerverbands-Mitvorsitzender, lächelt. Vielleicht fühlt sich der ungarische Starunternehmer Nummer eins, der seit Jahren zu den populärsten Politikern des Landes zählt, hier näher an jener gesellschaftlichen Realität, die er im Parlament so häufig anzuprangern pflegt. Erstens, so Palotás, habe der VOSZ jetzt viel mehr Platz als in der kleinen Villa, und zweitens liege das Platánus gegenüber dem schönsten Park der Stadt.

Umsonst gibt es während der Jahrestagung nur Mineralwasser und Kaffee aus dem Selbstbedienungsautomaten. Empfangsdamen verteilen ein Heftchen mit dem Titel „Der erfolgreiche Exporteur – Marketingwegweiser für beginnende Außenhändler“. Die TeilnehmerInnen machen den Eindruck einer zutiefst seriösen Gesellschaft. Kein Protz, die Kleidung unauffällig-elegant.

VOSZ-Vorsitzender István Kovács spricht in Stichworten über die „außerordentlich kritische wirtschaftliche Situation“, zu der es die Regierung „mit ihrer Untätigkeit“ habe kommen lassen: sinkendes Bruttosozialprodukt, Verarmung, Arbeitslosigkeit, hohe Steuern, fallender Export, steigender Import, eine höhere Inflation als erwartet. Dann mahnt Kovács die Mitglieder, endlich ihre Jahresbeiträge zu bezahlen. Später, während der Debatte, ruft eine ältere Unternehmerin mit zitternder und zugleich aufrüttelnder Stimme in den Saal: „Tun wir etwas gegen die Verantwortungslosigkeit der Regierung!“

Nachdem die Pflichtkür absolviert ist, zeichnet János Palotás im Gespräch unter vier Augen ein nicht ganz so düsteres Bild der allgemeinen Lage. „Die neue ungarische Unternehmerschicht“, sagt er, „entwickelt sich dynamisch. Leider ist die Bilanz noch negativ. Das Privatunternehmertum kann nicht völlig ausgleichen, was der Niedergang der staatlichen Wirtschaft verursacht. Aber Ungarn ist auf dem Weg des Wachstums. Denn in einem verarmenden Land kommt es nicht vor, daß sich der nationale Wagenpark zahlenmäßig vergrößert und sich sein Durchschnittsalter gleichzeitig verringert.“

Marietta Mercsényi, 48, ist Unternehmerin aus Passion. Aber die Marktwirtschaft hat sie an den Rand des Nervenzusammenbruchs gebracht. Mit dem Wunsch, selbständig zu sein, und einer Strickmaschine fing vor zwanzig Jahren alles an. Sie gründete einen kleinen Textilbetrieb, in dem sie Pullover, Kleider, Westen und andere Strickwaren fertigte. Heute beschäftigt sie 180 Menschen. Früher, sagt sie, hätten die Leute sie schief angeschaut, weil sie selbständig war, und die staatliche Bürokratie habe keine Gelegenheit ausgelassen, sie zu behindern. Und doch sei es viel, viel leichter gewesen.

Ihr großes Haus steht an der stark abschüssigen Seite des Budapester Orbánhügels. Büros und ein Teil der Fabrik schließen sich gleich an. Zwischen Strickkollektionen und Model-Postern sitzt Marietta Mercsényi auf dem Kanapee und hält sich die Hände vors Gesicht. Marktwirtschaft bedeutet für sie hohe Steuern, Importdruck, Textilschmuggel, Konkurrenz, der sie kaum standhalten kann, Außenstände, weltweite Rezession.

„Meine Situation ist heute so“, bricht es aus ihr heraus, „als ob ich mich waschen will und erst mal die Seife herstellen muß. Es gibt keine Infrastruktur in diesem Land. Wenn die ungarische Wirtschaft trotzdem nicht zusammenstürzt, dann ist das nur uns zu verdanken, denen, die etwas machen.“ Und weiter: „Die Leute betrügen und sind nicht gewohnt zu arbeiten. Es gibt gar keine Arbeitslosigkeit, oder wieso bekomme ich keine Näherin? Alle wollen nur Geld, Geld, Geld. Ich könnte morgen pleite gehen, dann hätte ich endlich ruhige Nächte. Na ja, man muß einfach arbeiten wie eine Maschine.“

Für Kórnel Jellen war die Marktwirtschaft „historisches Gück“, wie er es nennt. Sein Büro befindet sich in der sechsten Etage des „Trade Centers“ in der Budapester Váci-Straße. Hier, im Zentrum der Metropole, sieht Ungarn schon so aus, wie es in Zukunft überall aussehen möchte. Hier befinden sich in postmodernen Glas- und-Stahl-Gebäuden Banken, exklusive Cafés, teure Hotels und Boutiquen mit Verkäuferinnen wie von Pariser Laufstegen.

„Entschädigungsscheine?“ fragt Kornél Jellen ins Telefon. „Nichts für ungut, aber ich würde lieber Investitionskarten kaufen.“ Eigentlich wirkt er zu jung für solche Art von Reality-Monopoly, der 29jährige Millionär. Volkswirtschaftsstudium bis 1987, Anstellung bei der Nationalbank, danach in der Devisenabteilung einer Handelsbank. Seit Mai 1990, kurz nach den freien Wahlen, Chefmanager der „Capital Financial Consulting Co. Ltd.“.

Jellen und seine Partner hatten die Idee zu einer der ersten ungarischen Privatfirmen überhaupt, die Kredite vermittelte, mit Wertpapieren handelte und Investitionsberatung anbot – einige ungarische Unternehmen und ein deutscher Geschäftsmann brachten das Grundkapital auf. „Weil in Ungarn das Finanzgewerbe vollkommen neu entstand“, sagt Jellen, „hatten alle die gleichen Startbedingungen. Deshalb bin ich heute in einer Position, in der man anderswo erst mit fünfzig ist. Das war historisches Glück.“

Die Regierung habe ihren Einsatz verpaßt, findet er. Ihr mangelnder Reformwille habe Ungarn auf die „italienische Bahn“ gebracht. „Die Statistiken sehen schrecklich aus, es gibt ein Haushaltsdefizit, die Zahlungsbilanz ist negativ, die große Arbeitslosigkeit, Reallohnverluste. Und wenn man auf die Straße geht, sieht man, daß die Leute konsumieren und konsumieren. Dahinter steckt das wachsende Gewicht der zweiten Wirtschaft.“

Das meint auch Csaba Halmos, 49. „Wenn die Sozialversicherungsbeiträge niedriger wären“, sagt er, „gäbe es viel weniger Arbeitslose. Denn die Arbeitgeber würden nicht mehr so viele Leute schwarz beschäftigen.“ Csaba Halmos muß es wissen. Er war unter der letzten kommunistischen Regierung von Miklós Németh Staatssekretär und Vorsitzender des staatlichen Lohn- und Arbeitsamtes.

Im November 1990 hat Csaba Halmos, Ökonom und ehemaliges Mitglied der Kommunistischen Partei, sich privatisiert: Er vermittelt den Arbeitslosen der Marktwirtschaft Stellen – als Chefmanager der ersten osteuropäischen Leiharbeitsfirma „Manpower“, die sich mit 100 Prozent in französischem Besitz befindet. Daß für die Eigentümer nicht nur seine Qualifikation und Fremdsprachenkenntnisse, sondern auch seine Verbindungen und sein Herrschaftswissen eine Rolle spielten, gibt er zu. Trotzdem scheint er kein typischer Fall. Bei der unabhängigen Presse fiel er schon als Staatssekretär positiv auf. Und einige ungarische Soziologen haben die Theorie, daß die früheren Spitzenfunktionäre ihre politische in ökonomische Macht eingetauscht haben, inzwischen als zumeist falsch verworfen.

Aber selbst wenn die alten Direktoren überall die neuen Manager wären – die Elite-Chefredakteurin fände es nicht schlimm. Falls jemand früher nur protegiert worden sei, werde er heute nicht durchkommen, meint Éva Körtvélyes. „Es ist mir völlig egal, wer früher was gemacht hat, Hauptsache, die Betreffenden tun etwas, um die Wirtschaftslage zu verbessern. Es wird bleiben, wer geschickt, wer der Beste ist.“

Über jene, die heute die Besten sind, hat sie übrigens doch eine soziologische Beobachtung gemacht. „Die Klasse der Reichen entwickelt sich. Früher sind sie in die ein, zwei guten Geschäfte gegangen, die es gab, und haben sich wahllos schön teure Sachen gekauft. Wenn sie die dann angezogen hatten, sahen sie fürchterlich aus. Jetzt werden sie, wenn sie nicht kombinieren können, von den Verkäufern beraten. Und sie haben schon gelernt, daß man auf Bällen einen Smoking anziehen muß, dazu das Smokinghemd und Lackschuhe.“