Sanssouci: Nachschlag
■ Wolfgang Hilbig las im Cafe Kyril in Prenzlauer Berg
Wolfgang Hilbig liest gleichförmig, sein Oberkörper hebt und senkt sich kaum merklich im Takt seines Atems in kurzen, regelmäßigen Abständen, ab und an nippt er am Wasserglas. Jede weitere Geste wäre störend, die Monotonie seines Vortrags unterstreicht, was er liest: „Es ist, als sei noch keine Zeit vergangen“, heißt es in einem Gedicht. Das Fürchterliche ist: Hilbig könnte flüstern, stottern, krächzen. Entziehen könnte man sich seinen Worten trotzdem nicht.
Es ist, als seien die Texte, die Hilbig liest, nichts als verschiedene Teile ein und derselben schaurigen Erzählung, die eine einzige Botschaft variieren: Wer hier hineinkommt, kommt nicht wieder heraus. Nicht tot, und schon gar nicht lebendig. Alles ist Verwesung, alles endet im Schlamm. Die Elemente – Feuer, Wasser, Luft und Erde – sind feindlich; ebenso die Früchte, Gewebe, grüne oder braune Flaschen, selbst Musik und was sonst noch über und unter der Erde ist. „Das Labyrinth stößt Labyrinthe aus“, die Dinge vermehren sich auf unerklärliche Weise. Und er, die einzige Figur, dieser Mann (mal Kind, mal ausgewachsen: es gibt keine Zeit), der dazu verdammt ist, sich hier herumzutreiben, ist einsam. Kaum daß außer ihm Menschen auftreten. Tun sie es doch, schattenhaft entrückt, können sie ihm doch nicht helfen.
Im Gegenteil: Besonders Frauen, den Elementen als fünftes zugerechnet, wirken bedrohlich; sie schreien und kommen in unüberschaubarer Menge vor: Tanten, Mütter, Großmütter, „entfernte Freundinnen“, die sich von Fäulnis, Staub, Schlamm, Spinnweben oder Gestank nur dadurch unterscheiden, daß sie eine Stimme besitzen und, ihr bloßes Dasein mit kreischendem Singsang verschlimmernd, unaufhörlich Forderungen stellen. Zum Beispiel daß er diesen ganzen Dreck wegräumt. Oder Liebe – die er nur zu geben in der Lage ist, wenn die Frauen weit entfernt sind. Die Folge: Er flieht. Immer. Von Punkt zu Punkt, in die Nacht, in den Wald, ins Wasser, ins Moor. Als könnte man vor der Apokalypse so einfach abhauen, als gäb's in Geisterhäusern und an Geisterorten, die wahlweise Wald, Straße, See oder Schilf heißen, irgendwelche Fronten, die man notfalls wechseln könnte. Friederike Freier
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