: Was sich alles ändern muß
So gut wie alles: Arbeitsmarktpolitik, Einwanderungspolitik, Außenpolitik, Geschlechterverhältnis. Warnfried Dettling hat Plädoyers für eine neue Reformbewegung versammelt ■ Von Mechtild Jansen
Die 1993 aufgenommene Diskussion über Arbeit und Arbeitszeit ist der sichtbare Beginn einer relevanten gesellschaftlichen Bewegung für eine neue Reformära.
Das Wahljahr 1994 wird zur stärkeren Sammlung derer führen, die für einen neuen positiven Politikansatz wirken. Damit wird auch eine Utopiediskussion aus der Gesellschaft heraus wiederaufgenommen, die konkret, realistisch, inspirierend und mobilisierend für Bürgerinnen und Bürger sein wird, die ihre Gesellschaft mitgestalten wollen. Die Zeichen hierfür mehren sich seit geraumer Zeit.
Diese Prognose findet auch Ausdruck in einer wichtigen Neuerscheinung pünktlich zum neuen Jahr: Warnfried Dettling gibt „Perspektiven für Deutschland“ heraus. Er läßt 17 Autoren und drei Autorinnen aus Wissenschaft, Politik und Publizistik zu Wort kommen, von CDU über SPD und Grüne bis zu Parteilosen, die aber meist gerade nicht deren Mainstreams, sondern eher die „Abweichungen“ verkörpern. Die Beiträge analysieren nüchtern die Situation des Landes, konzentrieren sich auf Perspektivenerkundung und alternative politische Gestaltungsmöglichkeiten. Sie sind nach dem Zusammenbruch des Sozialismus und dem Triumph des nackten Kapitalismus, der sich jetzt als dessen Scheitern erweist, auf eine neue soziale Marktwirtschaft und demokratische Bürgergesellschaft orientiert. Sie verstehen sich als engagierte Alternativen zu „Fundamentalismus und Gleichgültigkeit“.
Selbstanpassung des Modells Deutschland
Interessant ist, daß die innere Lage Deutschlands und seine ökonomische wie politische Stellung in der Welt deutlich positiver beurteilt werden, als die allgemeine Stimmung zuläßt. Am deutschen Einigungsprozeß finden die Autoren – allen bekannten Miseren zum Trotz – einiges Geglückte. Wolfgang Zapf und Roland Habich prognostizieren, daß die Wohlfahrtsentwicklung zwar langsamer als versprochen eintreten, aber nicht abstürzen wird. Sie wird für die Ostdeutschen vorteilhafter sein als für die Menschen in den anderen Transformationsländern.
Der Preis für die relative Wohlfahrt durch die Einheit ist, daß die neue Ordnung keine selbstgemachte ist. Die Westdeutschen bekommen vor allem die Nachteile zu spüren: Einem Drittel von ihnen geht es schlechter, während es mehr als der Hälfte im Osten besser als vor der Wende geht. Ebenso diskussionswürdig wie -bedürftig ist der Vorschlag Kurt Biedenkopfs zur radikalen Regionalisierung und Autonomisierung von ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklungen in Europa – unter Inkaufnahme von Verschiedenheiten und Ungleichheiten. Kurt Möller sieht die Öffnung Osteuropas zur Marktwirtschaft als kommendes Glück der deutschen Wirtschaft, die ihre „guten Produkte der Konsensdemokratie“ anzubieten habe.
Erhellend die Vorschläge zu Arbeit und Ökologie: Es gibt neue Lösungsmöglichkeiten für Massenarbeitslosigkeit und Alterspyramide, nämlich andere Arbeitszeit- und flexible Lebensmodelle, die gleichwohl ausreichende Einkommen, soziale Sicherung und Selbstbestimmung ermöglichen, wie Ingrid Kurz-Scherf und Gerhard Bäcker detailliert aufzeigen. Instruktive Vorschläge gegen die Erstarrung in den Arbeitsbeziehungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmern, für eine „selbstinnovative Anpassung“ der Tarifdemokratie an die veränderte Umwelt unterbreitet Otto Jacobi. Er zweifelt nicht an der Zukunftsfähigkeit des deutschen Modells der sozialstaatlichen und industriellen Demokratie. An den Stellenwert der ökologischen Frage und ihre innovative Rolle für die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands erinnert Oskar Lafontaine.
Spannend, aber auch in gewisser Weise erschütternd sind die Beiträge von Karl Otto Hondrich und Dieter Oberndörfer, die die deutlichste und schärfste Kontroverse unter den AutorInnen dokumentieren. Hondrich beschäftigt sich mit der anthropologischen Begründung der Angst vor dem Fremden. Sie sei weder wegzuargumentieren noch zu reformieren, sondern schlicht Grundbestand menschlicher Sozialität. Nur so viele Fremde dürften ins Land gelassen werden, daß Einheimische nicht beeinträchtigt werden. Seine Argumentation vermag der Oberndörfers schwer standzuhalten. Oberndörfer analysiert die sich abzeichnende katastrophale Vergreisung und Verarmung der Gesellschaft und plädiert aus humanen, demographischen, wirtschaftlichen und republikanischen Motiven für eine geregelte, gestaltende Einwanderungspolitik. Er sieht keine Alternative zur Aufnahme der Einwanderungswilligen: Die Masseneinwanderung sei eine „ebenso epochale Herausforderung wie im 19. und 20. Jahrhundert die Auflösung bäuerlicher Strukturen, die Industrialisierung, Verstädterung und Säkularisierung“. Eine Zweiklassengesellschaft hält er für einen Verrat an den weltbürgerlichen humanistischen Werten der republikanischen Ordnung Deutschlands, wie sie sich in Art. 3 GG niederschlagen. Kulturen seien immer plurale und dynamische Gebilde, niemals nationaler Besitz, der moderne Verfassungsstaat sei auch verfassungsrechtlich multikulturell und offen. Alles andere führe zurück in die Zeit der Religionskriege.
Die Beiträge zur Außenpolitik sind etwas schmalspurig angelegt, insofern sie Kontroversen zur Rolle des Militärs unterlassen. Werner Weidenfeld und Horst Teltschik plädieren weitsichtig für eine Entwicklung Europas und der deutschen Außenpolitik, aufbauend auf den Traditionen der westlichen Einigung und der östlichen Entspannungs- und Ausgleichspolitik. Sie sprechen für eine Öffnung der EG nach Ost- und Südosteuropa, für Ausgleich mit Rußland, für Fortschreibung der KSZE und Menschenrechtskonventionen sowie deren Realisierung auf europäischer Ebene. Die Hoffnung auf eine starke UNO teilen sie nicht. Sie halten eine entsprechende militärische Ausstattung und gegebenenfalls deren Einsatz dabei für unverzichtbar, betonen aber die deutsche Verantwortung für die demokratische und soziale Entwicklung Osteuropas und des Mittelmeerraums mit eben denselben Mitteln.
Gerhard Schmidtchens Anmerkungen zu deutscher Romantik und Wahnhaftigkeit, Systematik und Mystik, Selbstmitleid und Aggressivität, Dominanz statt „Kooperation, die auf Produktivität und Kreativität des Verschiedenen setzt“, halten uns den Spiegel vor. Statt Identifikation mit dem Staat schlägt er die Förderung des autonomen Bürgers, Gleichheitsprinzip und Aufklärung vor. Gegen das Gejammer und den aussichtslosen Versuch, den Individualismus mit konservativen Werten wieder einzufangen, für die Chance von Individuen, die sich aus eigenem Interesse um soziale Beziehungen kümmern, schreiben Ulrich Beck, Roland Eckert und Warnfried Dettling. Beck betont, daß gesellschaftliche Krisen als individuelle erscheinen, und hebt die Bedeutung der Subpolitik, der Selbstorganisation von Bürgerinitiativen, hervor, deren „Betroffenheitspflege“ durchaus das Ringen um eine neue Dimension des Politischen ausdrücke. Eckert will Bürgerbewegungen als normales Element der Demokratie neben Parteien anerkennen und anregen, Fremdpositionen einnehmen zu lernen. Dettling spricht sich in seinem grundlegenden Beitrag für die „3. Form“ der Solidarität aus. „Es fehlt an Gemeinschaftsangeboten, zwischen denen dann freie Menschen frei wählen können, in die sie nicht, wie in vormodernen Gesellschaften, durch sozialen, politischen oder religiösen Druck hineingezwungen werden ... Individualisierung bedeutet vielmehr, daß Menschen ihre sozialen Bindungen möglichst frei wählen wollen.“ Er hält eine Eloge auf eine neue soziale Marktwirtschaft als die notwendige Alternative im Kapitalismus. „Staaten oder Märkte haben sich der bürgerlichen Gesellschaften bemächtigt, zu Staats- oder Wirtschaftsgesellschaften geführt, und auf der Strecke blieb die Bürgergesellschaft“, die einen demokratischen Staat und freie Märkte zwar braucht, sich darin aber nicht erschöpft.
Plädoyer für eine neue moral policy
Anknüpfend an die Kommunitarismus-Debatte in den USA plädiert er für eine moderne und aufgeklärte Art von moral policy. Der Mensch wird dabei als komplexes und widersprüchliches Wesen gesehen, als individualistisches und soziales, ökonomisches und moralisches Wesen, dessen Verhalten vom sozialen Kontext abhänge. So soll eine „soziale Infrastruktur geschaffen werden, die es wahrscheinlicher macht, daß Menschen sich in sozialer Hinsicht ,moralisch‘ verhalten, als freie Individuen die Folgen ihres Handelns auf andere bedenken und sich um andere kümmern“. Moralpolitik ist freilich eine Machtfrage, an ihr entscheidet sich, was einer Regierung, einer Gesellschaft wieviel „wert“ ist. Die verlangte Erneuerung der Politik bezieht sich auf den „demokratischen Traum, die Idee der positiven Freiheit für die Bürger, die Einladung nämlich, teilzunehmen am gemeinsamen Schicksal, mitzugestalten an der gemeinsamen Zukunft“ (Daniel Yankelovich). Dieses Votum für eine „produktive Beziehung zwischen verantwortlicher Regierung und verantwortlicher Bürgerschaft“ bietet besten Diskussionsstoff.
Zu wünschen bleibt, das Phänomen des Rechtsradikalismus und der Gewalt wäre nicht nur implizit durch das Plädoyer für eine andere Politik, sondern auch durch Kluges zur direkten Auseinandersetzung im Wahljahr beantwortet worden. Höchst unbefriedigend ist die Frage nach den Geschlechterverhältnissen behandelt. Renate Schmidts Vorschläge für diese und jene Sozialpolitik für Frauen, der Fingerzeig auf die Geschlechterfrage in einigen Beiträgen sind zu dürftig, um die gesamtgesellschaftlichen Dimensionen der Überwindung von Frauenunterdrückung zu erfassen.
Kurt Biedenkopf, Karl Otto Hondrich, Dieter Oberndörfer, Wolfgang Zapf, Horst Teltschik, Renate Schmidt, Ulrich Beck u.a.: „Perspektiven für Deutschland“. Herausgegeben von Warnfried Dettling. Knaur Taschenbuch, 393 Seiten, 12,80 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen