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In jede Falte eindringen

■ Ein ziemlich trauriger Massenmörder: "Schramm" von Jörg Buttgreit

Gute Horrorfilme sind langsam, beim modernen Splatter dagegen geht alles viel zu schnell. Am Ende von „Braindead“ bleibt nicht einmal genug Zeit, um die Leichen zu zählen. Bei Jörg Buttgereit scheinen sich die Gesetzmäßigkeiten der beiden Genres aufzuheben: Um zur Blutorgie von „Nekromantik II“ zu gelangen, mußte der Betrachter erst unendlich lange Schwarzweiß-Kunstfilm-Einstellungen, Vorträge über Singvögel und eine Riesenradfahrt überstehen. Bis zur Schlußsequenz bleibt alles friedlich, dann sägt die Hauptdarstellerin Monika ihrem Liebhaber den Kopf ab, während sie mit ihm schläft, und stülpt dem blutenden Rumpf den Schädel einer moderigen Leiche über. Der Film wurde wegen „exzessiver Darstellung von Gewalt“ auf den Index gesetzt und verboten.

Auch die Geschichte des Massenmörders Schramm wird einige Zensoren erregen. Als ihn irrsinnige Schuldgefühle befallen, versucht Schramm sich zu bestrafen, indem er sein Geschlechtsteil am Küchentisch festnagelt. Vorher hat er ein im Auftrag der Zeugen Jehovas von Haustür zu Haustür ziehendes Pärchen umgebracht und mit den Leichen kopuliert.

Die existentielle Not, die Filmemacher Jörg Buttgereit und Drehbuchautor Franz Rodenkirchen minutiös nachstellen, hat sich seit „Nekromantik“ scheinbar kaum verändert: Die einleitende Frage „Haben sie schon einmal über Gott nachgedacht?“, die Schramm mit dem Doppelmord beantwortet, hätte auch von Dostojewski gestellt werden können, oder Brett Easton Ellis.

Ohne richtig daraus schlau zu werden, hat man bereits nach fünf Minuten alles gesehen, was „Schramm“ passieren wird – die menschliche Bestie tötet, leidet und stirbt elend. Ansonsten verläuft das Leben des „Lippenstiftmörders“ äußerst alltäglich. Schramm (Florian Koerner von Gustorf) wohnt in einem Berliner Altbau, fährt Taxi und sucht die Liebe seiner Nachbarin (Monika M), die als Prostituierte sadomasochistische Phantasien erfüllt. Manchmal gehen die beiden zusammen essen oder plaudern über die Zukunft. Daß er auf einem viereckigen Gummipuppen-Torso aus dem Sex-Versand herumreitet, wenn sie ihrer Kundschaft lauthals einen Höhepunkt vorspielt, gehört in die Grauzone des Privaten, aus der Schramm nicht einmal durch seine Morde ausbrechen kann. Wunsch und Wirklichkeit verschmelzen irgendwann in der Wahnvorstellung, die Welt würde um ihn kreisen wie vor einer Kamera, während er Zeit allmählich nur noch in Splittern erlebt.

Der Film legt diese Art von innerer Abgeschlossenheit offen. Während Schramm immer weniger Abstand zu seinen Taten findet, tastet die Kamera medizinisch seinen Körper ab, dringt penibel in jede Falte an Stirn und Bauch oder zeigt sein schlaff baumelndes Geschlecht. Der Täter wird Opfer der Aufzeichnungsmaschine, während ihm selbst alles Körperliche fremd bleibt. Bis auf Traumsequenzen oder den Kastrationsversuch verhält sich der Film jedoch gegenüber der eigentlichen Handlung gleichgültig und distanziert. Selbst die sparsamen Splattermomente wurden für das Genre ungewöhnlich nüchtern gefilmt, ohne auf Schockeffekte zu spekulieren. Surrealistisch wird Schramm in einer Szene beim Zahnarzt das rechte Auge herausgeschnitten, ein Traum, den Freud in „Das Unheimliche“ als Kastrationsangst gedeutet hat. Das Auge als Metapher für Gewalt und Macht zieht sich durch den gesamten Film, zuletzt setzt Schramm seine Nachbarin unter Drogen und entkleidet sie, um sie in Unterwäsche zu fotografieren.

Ohne auf den Schock zu spekulieren

Das klingt zwar alles recht schmutzig, aber nicht nach Horrorfilm. Denn „Schramm“ bricht mit den durchgestylten Szenarios, in denen zur Zeit das Mainstream-Kino für „das Böse“ wirbt. Die jungen Menschen in „Kalifornia“ sind zugleich athletisch hochfrisiert und hemmungslos triebgesteuert, bei Quentin Turrentinos „True-Romance“-Plot wird der erste Mord, den Alabama begeht, zum selbstbefreienden Coming-out. Neben all diesen dunklen Schönheiten nimmt sich Schramm in der Tat wie ein Monster aus, aber eines, das die romantischen Züge der Kreaturen Mary Shelleys trägt. Statt die stromlinienförmig-postmoderne Lebenslust am Körper als Zeichen aufzutischen, hat das Buttgereitsche Geschöpf erhebliche Schwierigkeiten mit dem reinen Ausagieren. Trotz der Flut von Serienkillern, die spätestens seit Hannibal Lector im „Schweigen der Lämmer“ zu zeitgenössischen Heldenfiguren aufgestiegen sind, haben Buttgereit und Rodenkirchen von einer weiteren Ausschlachtung dieses Themas abgesehen. Entgegen der Dämonisierung und gleichzeitig vordergründigen Ästhetisierung des Bösen schildert „Schramm“ in einer Art Charakterstudie den Verfall seines Protagonisten. Harald Fricke

„Schramm“, von Jörg Buttgereit und Franz Rodenkirchen. Mit: Florian Koerner von Gustorf, Monika M u.a. Bundesrepublik 1993

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