: Aufbruch aus der grünen Domäne
Alles, was Rang und Namen hat bei Bündnis 90/Die Grünen, suchte während einer zweitägigen Strategiekonferenz im Berliner Reichstag nach Antworten auf die Frage: „Kohl ablösen! Aber wie?“ Herausgekommen ist kein realistisches Wahlprogramm, aber immerhin ein eindeutiges „Wir wollen regieren“. Die Strategie des Wartens auf bessere ökonomische Rahmenbedingungen für die Reformpolitik war nicht gefragt.
Die Bündnisgrünen haben sich entschieden. An ihnen soll die Abwahl Helmut Kohls und der Beginn einer ökologischen Reformpolitik nicht scheitern. Sie haben die Personen, die politische Potenz, den Realitätssinn und die Frustrationstoleranz, die ein solches Projekt braucht, um nicht nach der halben Legislaturperiode in rot-grünem Chaos zu enden. Diesen ein wenig überraschenden Eindruck konnte gewinnen, wer am Wochenende im Berliner Reichstag die Debatten der Parteielite von Bündnis 90/Die Grünen verfolgte. „Kohl ablösen! Aber wie?“ hieß das Frage-Motto des Parteikongresses, der zu einer durchaus ungrünen Veranstaltung geriet: keine prinzipiellen Debatten, kaum Lamento über die schlechte Realität, kaum Ablenkungsgefechte mit dem prospektiven Koalitionspartner SPD. Statt dessen sachliche Debatten über die ersten Schritte einer Umbaupolitik, über die Anforderungen an das Wahlprogramm und immer wieder über bündnisgrünen Realitätssinn und den Willen, ihn 1994 in einem Regierungsbündnis geltend zu machen.
Daß es im Reichstag so kam, hing auch damit zusammen, daß die Konferenz nicht der Zufallsregie grüner Parteitage folgte. Dort geht es nach der Lostrommel, in Berlin galt: Wer reden wollte, kam zu Wort. Marianne Birthler, Ralf Fücks, Rezzo Schlauch, Krista Sager, Antje Vollmer, Werner Schulz, Helga Trüpel, Jürgen Trittin, Martin Schmidt, Peter Sellin, Christian Ströbele, Albert Statz, Frieder 0. Wolf, Roland Appel... Und immer wieder Joschka Fischer, der mit schon provozierender Selbstverständlichkeit seine unangefochtene Führungsrolle demonstrierte. Im Reichstag schien es, als seien die Grünen schlagartig im Wahljahr angekommen. Avisiert wurde das Ende bündnisgrüner Lustlosigkeit und angestrengter Selbstbeschäftigung.
„Wir sollten alles tun, um nicht auf 1998 warten zu müssen“, formulierte Marianne Birthler das eigentliche Motto der Veranstaltung. Bislang hatte der Minimalkonsens der Partei gelautet: „Kohl ablösen“. Die Perspektive einer Regierungsbeteiligung im Herbst 94 wurde dagegen in aller Vagheit „nicht ausgeschlossen“. Insgeheim hatte es jedoch so ausgesehen, als wolle die Partei das „verminte Gelände“ (Renate Künast) einer rot- grünen Koalition doch lieber meiden; die einen, weil sie oppositionelle Politik noch immer als ihre eigentliche Domäne begreifen, die anderen aus Angst, die Partei sei noch nicht auf die Übernahme Bonner Regierungsverantwortung vorbereitet und ein rot-grünes Desaster 95 werde die ökologische Reformperspektive für die Bundesrepublik nachhaltig zerstören.
Diesmal im Reichstag war alles anders: „Wir wollen, verdammt noch mal, Regierungsverantwortung übernehmen“, klagte Marianne Birthler lax-forsch den neuen Anspruch ein. Den „Reformstau endlich lösen“ wollte Werner Schulz, „präzise Ziele für eine grüne Regierungsbeteiligung setzen“, empfahl Jürgen Trittin. Und selbst Frieder 0. Wolf wollte keinen Zweifel an der neugrünen Entschlossenheit lassen: „Wir wollen regieren, wollen es ganz dringend.“ Keine Strategie des Wartens auf bessere Zeiten.
Aber wie soll ein Wahlprogramm aussehen, mit dem sich das Wählerpotential der Bündnisgrünen ausschöpfen ließe und das zugleich als Basis für künftige Regierungsbeteiligung taugen könnte? Ein „51-Prozent-Programm“ hatte Joschka Fischer schon im Vorfeld der Berliner Debatte propagiert. Gewollte und ungewollte Mißverständnisse waren da programmiert: Umstandslose Anpassung an den Mehrheitswillen lautete der Vorbehalt einiger Parteilinker. Wer ein „Programm für die Mehrheit“ entwerfe, so Christian Ströbele, werde am Ende nicht einmal acht bis zehn Prozent ausschöpfen. Die von Krista Sager aus dem Hamburger Wahlergebnis abgeleitete „Akzeptanz der Grünen als Volkspartei“ schreckte diejenigen, für die „Grün-pur“ irgendwie noch immer mit „Exklusivität“ zusammenfällt. „Wollen wir uns darauf beschränken, Utopien zu verbieten“, warnte Roland Appel vor allzu viel Annäherung an realpolitische Vorgaben. Albert Statz beschwor die Fiktion des „Laufstalls, in dem man sich gefahrlos bewegen“ wolle, und forderte statt dessen ein Programm, das an den weitgesteckten Zielen festhalte und eine Politik, die „die Grenzen des Möglichen“ in diese Richtung verschiebe.
Doch im Reichstag faszinierte eher die Perspektiven bündnisgrüner Realpolitik. „Was würden wir tun, wenn wir am Wahlabend 51 Prozent hätten“, vertrat Joschka Fischer mit unbeirrbarer Sturheit sein Kriterium für die laufende Programmdebatte. „Wir müssen aufhören, unsere Endziele in den Vordergrund zu schieben.“ Ein Wahlprogramm müsse „die Schritte dorthin“ angeben – unter den gegebenen gesellschaftlichen, rechtlichen, finanziellen und politischen Bedingungen. „Es geht nicht um die Ausblendung von Realität, sondern um die Durchsetzung in der Realität“, gab Fischer in immer neuen Wendungen sein Credo zum Besten. „Wer Politik macht, muß auch Politik machen“, übersetzte der Hamburger Martin Schmidt, und Ralf Fücks plädierte dafür, aufzuhören, „unsere Utopien als Realpolitik zu verkaufen“.
Angesichts dessen, was in Berlin an Forderungen für die erste Legislaturperiode kursierte, konnte sich die Angst vor dem grünen Utopieverlust getrost in Grenzen halten: Einstieg in die ökologische Steuerreform, gerechte Verteilung der Arbeit, beschlossener Fahrplan für den Atomausstieg, Grundsicherung, Einwanderungsgesetz und doppelte Staatsbürgerschaft, keine weitere Remilitarisierung der deutschen Außenpolitik. Eine schöne Bilanz – im Vorgriff sozusagen.
Im Reichstag lockten die Reformperspektiven. Kein Frustrationsschleier. Doch auch von der neuen Verantwortung der Grünen, nicht nur für die Entwicklung der Partei, sondern der Republik war im Reichstag die Rede. Eine selbstverpatzte Chance 1994, so die Warnung, könnte diesmal, anders als 1990, mehr verbauen als die bündnisgrünen Aussichten. Gelegenheit zum Scheitern jedenfalls haben die Grünen bis zum Wahltag noch jede Menge: Die Programmdebatte ist noch in vollem Gang, in der Außen- und Sicherheitspolitik scheint die Partei noch weit entfernt von einem Programm der realistischen Schritte, und auch die Zusammensetzung der nächsten Bundestagsfraktion, die – glaubt man dem Reichstagstenor – eine Regierungsfraktion werden will, ist noch unklar.
Und am Ende hatte Werner Schulz noch eine herbe Warnung parat: Wie hieß doch gleich im Sommer 90 die grüne Parole? – „Kohl ablösen!“. Matthias Geis, Berlin
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