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Jean-Louis Barrault ist tot

Mitte der siebziger Jahre gab es plötzlich eine Zeit, ein Sommer war es wohl, da mußten alle Leute mehrmals die Woche in Marcel Carnés „Kinder des Olymp“ gehen. Es gab ein oder zwei Kinos, in denen man sich dann immer traf, knapp grüßte und der Szene entgegenfieberte, in der er erkennt, daß er mit der falschen Frau lebt und sich ins Gewühl eines Fastnachtszuges stürzt, um die richtige aufzuhalten. „Laßt mich durch! Garrence! Garreeeeence!“ Perdu! Je komplizierter und unwägbarer die eigenen Erfahrungen (bittschön: damals waren alle sechzehn), desto heftiger die Konjunktur solcher Filme. Wo lassen Sie erleben, das hieß damals „Kinder des Olymp“, das hieß Jean-Louis Barraults weißgeschminktes Mimengesicht über dem wehenden Clownsgewand im Schrecken über den Verlust des Glücks erstarren sehen.

Barraults Performance traf damals wohl auch auf so offene Gemüter, weil sich irgendwie herumgesprochen hatte, daß er im Mai 1968 mit den Studenten paktiert hatte. Er hatte ihnen sein Odeon-Theater als politisches Forum überlassen und wurde deshalb vom damaligen Kultusminister André Malraux, of all people, seines Amtes enthoben. Das Wissen um diese Koalition, plus die Tatsache, daß es sich bei „Kinder des Olymp“ um eine Kriegsproduktion handelte, verliehen den im Film tobenden Leidenschaften den gewissen Überbau, der damals irgendwie zur Exposition von Gefühlen wichtig war. Barrault jedenfalls wurde am 8. September 1910 in Le Vésinet als Sohn eines Apothekers geboren. Sein Vater hielt sich aber, neben den heilenden Essenzen, auch noch eine kleine Bühne, „L'Essor“, auf der auch seine Mutter auftrat. Nach dem frühen Tod des Vaters kümmerte sich der Großvater um den Knaben, der ihn zum Kaufmann machen wollte. Irgendwie gelang es ihm aber doch, bei Charles Dillon vorstellig zu werden, der ihn umsonst unterrichtete. Als er mit 21 seine ersten Auftritte hatte, schlief er noch auf der Bühne – ist das nicht wunderbar! – weil er keine Wohnung hatte. Mindestens genauso froh stimmt einen doch, daß er sich Hals über Kopf in den Surrealismus stürzte, mit Breton im Studio und Artaud auf der Bühne und Prévert und überhaupt. In einer Inszenierung von „Sous les yeux d'occident“ lernte er die Schauspielerin Madeleine Renaud kennen, die seine Frau wurde.

Jean-Louis Barrault erlag am Samstag im Alter von 83 Jahren in Paris einem Herzschlag. mn

Oben: Jean-Louis Barrault 1944 in „Kinder des Olymp“, Foto: Verleih, unten 1988, Foto: Andreas Pohlmann

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