Einsam im goldenen Käfig

■ Studie über Selbstmorde in Hannover / Strafsteuer fürs Abschieben von Alten?

„Irgendwie ist die Stille danach kälter als sonst. Man sieht sich dann selbst da liegen und die Angst vor dem eigenen Ich kommt hoch.“ Jan Groetzner arbeitet im Rettungsdienst, und wenn er laut über seine Selbstmordpatienten nachdenkt, verliert seine Stimme schlagartig an Sicherheit. „Ich suche dann in meinem Kopf Bilder. Meine Gedanken brauchen einen Nährstoff, damit ich meine Hilflosigkeit verdrängen kann.“

So wie Jan fragen sich viele Mitarbeiter sozialer Dienste: Wäre das nicht zu verhindern gewesen? Forschungsarbeiten wie die Studie über die Selbstmordhäufigkeit und deren Ursachen, die jetzt an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) angefertigt wurde geben zumindest Auskunft, bieten Lösungsvorschläge an. Unter der Leitung von Dr. Kurt Buser wollte man feststellen, ob es eine Verbindung zwischen der Verteilung von Selbstmorden zu soziologischen und sozioökonomischen Faktoren geben könnte.

Untersucht wurden alle Selbstmorde der Jahre 1980 bis 1989. In dieser Zeit nahmen sich im gesamten Stadtgebiet 1.272 Menschen das Leben, davon knapp die Hälfte Frauen. Auf den Wohnort bezogen ist die Selbstmordrate am höchsten im Stadtteil Burg. Sie liegt dort bei 127, im Stadtteil Mitte lag die Rate mit 85 am zweithöchsten. In den Stadtteilen Waldhausen und Sahlkamp (je 9) und Bornum (keine) war die Selbstmordrate am niedrigsten.

Der Studie zufolge gibt es in Hannover einen statistischen Zusammenhang zwischen überdurchschnittlicher Selbstmordrate und Einpersonenhaushalten sowie niedriger sozialer Integration. „Nachdem ich einfach einmal beim Arbeitsamt angerufen habe, hat sich herausgestellt, daß es einen Zusammenhang zwischen der Arbeitslosenzahl und der Zahl der Selbsttötungen gab“, sagt Buser. „Wenn ich die gegenwärtigen Arbeitslosenzahlen sehe, dann frage ich mich, ob die Kurven zur Zeit nicht wieder identisch verlaufen.“

Von den 1.271 Suiziden, deren Alter bekannt war, waren nur 10 Menschen unter 18 Jahre alt, ein Drittel davon war bei ihrem Freitod älter als 65 Jahre. Das bedeutet für die unter 18jährigen eine Selbstmordrate von 1 je 100.000 Einwohner und bei den Menschen über 65 Jahren lag die Rate bei 46 Selbstmorden je 100.000 Einwohner. Die meisten alten Männer brachten sich in Zoo und Burg um, bei den Frauen waren Lahe und Misburg-Süf am häufigsten vertreten.

Nach Busers Darstellung ist die Selbstmordrate bei Frauen über 65 besonders hoch, wenn sie wenig oder gar keine familiären Kontakte haben, gleichzeitig über ein relativ hohes Einkommen verfügen und zur besseren Gesellschaft gehören. Die Frauen sind einsam im goldenen Käfig, nennt das der Wissenschaftler.

Immer mehr Menschen, vor allem Angehörige, stehlen sich aus der moralischen Verantwortung gegenüber ihren Verwandten, berichtet der Arzt Kuno Winn aus seiner Praxis. Eigentlich sei es gar nicht so problematisch, den alten Menschen in der Familie zu behalten, anstatt ihn in ein Pflegeheim abzuschieben. „Das Heim ist niemals ein Familienersatz“, meint Winn, Abhilfe könne beispielsweise eine Strafsteuer für Angehörige schaffen.

Politiker würden sich zu wenig für die Älteren einsetzen. Wenn die alten Menschen endlich ihre Macht wahrnähmen, die sie mit ihrer Wählerstimme haben, dann wäre vieles anders. Ralf Bode