: Loccum – wohin die Reise geht
In der Evangelischen Akademie des niedersächsischen Örtchens trafen sich Wissenschaftler, Buchverleger, Reiseführer und Reisejournalisten zum Thema „Perspektiven des Tourismus in Europa“. Auch ein Tagungsbericht ■ Von Karl Anton & Vororth
Wir schreiben den 21. Januar 1994. Ein Freitag. Der Globetrotter erreicht die Stadt Hannover um 19 Uhr 57, genau nach Fahrplan. Die vorangegangene Fahrt mit dem Zug von Berlin-Zoo aus hat etwas mehr als drei Stunden gedauert und ist eher ereignisarm verlaufen, sieht man von dem Umstand ab, daß er in Wagen 35 Platz 35 mit Platz 55 verwechselt hatte und bereits in Berlin-Wannsee seinen Sessel wieder an eine junge Dame abtreten mußte. Doch sind dies Fehler, die auch dem erfahrensten Reisenden unterlaufen.
Die Zeit hat der Globetrotter sich verkürzt mit der Lektüre der Einladung zur Tagung. „Reisen ist nicht nur Flucht aus dem Alltag und Urlaub vom Gewohnten, es ist seit altersher auch eine menschliche Existenzweise, die weiterhin ihr Recht und zukömmliche Formen sucht.“ „Sieh an“, hat er sich gedacht. „Wenn die da mal nur recht haben. Auf nach Loccum, mitreden!“
Auf dem Nebengleis 14 wartet bereits der Eilzug nach Wunstorf. Pünktlich 20 Uhr 5 fährt er ab, pünktlich um 20 Uhr 19 kommt er in Wunstorf an. Das Städtchen Wunstorf liegt im Niedersächsischen und harrt erst noch seiner touristischen Erschließung. Einen treffenden ersten Eindruck vermittelt zweifellos ein Rundblick von der vorderen Seite des Busbahnhofs aus. Vom hell angestrahlten Bahnhofsgebäude – Neoklassizismus? – Bundesbahnsachlichkeit? Früher Faller? – schweift das Auge über die weiße Fassade von „Old Station“ und das neonbeleuchtete Signet von „Spiel 7“, Stätten pulsierenden wunstorfschen Nachtvergnügens offenbar, bis hinüber zum dunklen, trutzigen Block von „Extra“, tagsüber sicher ein frequentierter Ort des Einkaufs und der Begegnung.
Hier ist ein guter Ort, um mit der einheimischen Bevölkerung ins Gespräch zu kommen. Hinter den blinden Scheiben der Stehbierhalle vertreiben sich Männer und Frauen die Zeit mit dem Trinken von Bier. Draußen sitzt ein Busfahrer in seinem abgedunkelten Gefährt, öffnet aber bereitwillig das Fenster. Ja, es sei noch ein ordentliches Stück Weges bis Loccum, so an die 20 Kilometer. Keine unüberwindbare Strecke freilich, warte doch auf der anderen Seite des Platzes bereits der 776er nach Bad Rehburg, wo es ein leichtes sei, in einen Anschlußbus umzusteigen. Ob es nicht sicherer wäre, ein Taxi zu nehmen? Der Busfahrer runzelt die Stirn, offenbar befremdet ob der Zweifel an der Zuverlässigkeit des örtlichen Transportwesens und der so leichthin bekundeteten Bereitschaft zur leichtsinnigen Verschwendung von Reisemitteln. Der 776er fahre demnächst ab. Pünktlich. Der Unterton von Mißbilligung ist nicht zu überhören. Der Globetrotter gesteht sich ein, daß ihn kurzfristig wohl seine Sensibilität im Umgang mit fremden Kulturen verlassen hat. Beschämt nimmt er seine Tasche und geht hinüber zum 776er. Tatsächlich verstaut der Fahrer dort gerade seine Thermoskanne in der Tasche und öffnet zischend die Tür. Der Globetrotter bezahlt die drei Mark für seinen Fahrschein, und das erscheint ihm angemessen. Dann setzt sich der Bus in Bewegung.
Die Wehrhaftigkeit des Menschenschlags
Auf den Plätzen ringsum männliche jugendliche Bewohner der umliegenden Dörfer. Schwer von Bier und beseligt von Erinnerungen an die Großtaten eines gewissen Sylvester Stallone kehren sie aus dem nahen Hannover zurück. Ihre Gespräche über die Vorzüge abwesender weiblicher Jugendlicher sind von Offenheit geprägt. Zwei weibliche Jugendliche, weiter vorn, kauen schweigend Kaugummi und lächeln überlegen, um nicht zu sagen: niedersächsisch- mysteriös. Die Reden sind laut und verständlich, die Präsenz des Fremden tut der Direktheit des Ausdrucks keinen Abbruch. Einer der jungen Männer lädt die anderen dringend zu einem Kleinkaliberschießen, was ein Schlaglicht wirft auf die Wehrhaftigkeit des Menschenschlags hier draußen.
Draußen: Die Nacht. Das Land. Das Abenteuer. Niedersachsen.
Dunkelheit entzieht die Landschaft den allzu neugierigen Blicken. Nach etwa 20minütiger zügiger Fahrt taucht der „Flecken Hagenburg, Landkreis Schaumburg“ aus der Dunkelheit auf. Vage Erinnerungen rappeln sich hoch, an die von oder zu Schaumburg-Lippe, und den Geschichtslehrer Dr. Mäusle mit seiner ungebremsten Begeisterung für Franz Josef Strauß und den eisernen Willen, diese mit seinen Schülern zu teilen.
Vorbei gleitet der angenehm temperierte Bus an Fachwerkscheunen mit schwarzen Balken und dunkelrotem Backsteinmauerwerk, in hell erleuchtete Fenster mit Schuhen oder Gartengerät huscht der Blick. Die Autos haben ein „N“ auf dem Schild, in den Gaststätten schenkt man „Gilde- Pilsner“ aus. Eine beleuchtete, aber leere Tankstelle taucht auf und verschwindet in der Nacht, Symbol der Vergänglichkeit allen menschlichen Beharrens. Still ist es inzwischen im Bus. Die Reste von Träumen von Frauen liegen in der Luft, ab und zu leuchtet, einem Menetekel gleich, die Schrift „Wagen hält“. Fahr weiter in die Nacht, Chauffeur! In Loccum wartet das Reisegewerbe auf Widerspruch.
Die Scheinwerfer tasten gelbe Wegweiser ab und lassen sie wieder los. Die Orte hier heißen Hagenburg, Stutzenau, Wiebenbrügge oder Stolzenau. Die Gaststätten „Bövers“ oder „Verrücktes Huhn“. Einmal führt eine Straße zum Steinhuder Meer. Ach, hier ist das also. Und dann, dann ist da schon Bad Rehburg. Sanft kommt der Bus vor dem „Café Aspendos“ zum Stehen. Der Anschlußbus fährt, wie der Busfahrer auf Befragen ungeniert erklärt, „heute abend nicht mehr“. Wie sinnlos menschliches Trachten doch ist! Irgend jemand, sagt der Busfahrer, betreibe am Ort ein Taxiunternehmen, der Name befinde sich sicher in der Telefonzelle. Und es seien ja nur fünf Kilometer bis Loccum.
Die Telefonzelle von Bad Rehburg ist nicht beleuchtet. Überhaupt macht der Ort um 21 Uhr 11 einen verhältnismäßig lichtarmen Eindruck. Der Globetrotter entscheidet sich, eher die Füße als die Augen zu ruinieren. Wenn es denn sein muß – Loccum!
Münchenhagen ist ein Ort von Klasse
Vorbei an der „Rehburger Diät- und Teefabrik“ führt die B 441 aus dem Ort hinaus. Bäume müssen es sein, was sich links und rechts in der Dunkelheit wiegt, Wind wispert in den Weiden, oder Buchen, respektive Erlen. Ein Fuchs hustet in der Dunkelheit, der dazugehörige Hase sagt leise gute Nacht. Hurtig voran! Doch die Tasche an der Hand hindert am zügigen Vorankommen. Der Globetrotter erinnert sich lange zurückliegender Sommer und streckt zögerlich die Hand mit dem hochgestellten Daumen aus, wenn, was vorkommt, die Lichter eines Autos flüchtige Schneisen ins Dunkel schneiden. Doch die Geste wirkt unfertig, unentschlossen. Er unterläßt sie alsbald, setzt auf den Beschützerinstinkt, den das Bild eines einsamen Wanderers mit Tasche in den Hirnen motorisierter Niedersachsen auslösen müßte.
Schon kommt ein Ort in Sicht. Münchenhagen, wie sich herausstellt, ein Ort von Klasse. Hell erleuchtet am Ortseingang die Restauration „Waldkrone“, die in der Unterzeile „Artemis“ heißt. Rechter Hand führt der Pfad zu heimischen „Saurierfährten“ und einem „Dinopark“. Es hat Satellitenschüsseln und Ford Fiestas. In den Gärten der Häuser ist der Rhododendron zu Kugeln geschnitten wie in den Parks von Versailles, ein Frisiersalon wurde im Stil eines toskanischen Landhauses frisch errichtet. Münchenhagen, so will es dem nächtlichen Besucher scheinen, ist von einer aparten postmodernistischen Konzeption geprägt, die Touristen manch andere Reise erspart. Wo „Blumenstraße“, „Hannoversche Straße“ und „Hauptstraße“ zusammentreffen, ist offensichtlich das Zentrum des Geschehens. An einer Hausfassade prangen durchlöcherte Schießscheiben, ein paar Schritte weiter, gegenüber der „Deutschen Eiche“, ziert „Gott zur Ehr, dem Nächsten zur Wehr“ einen Schuppen – Hinweis über Hinweis auf intakte dörfliche Strukturen und ein lebendiges Kulturleben, das zu zerstören dem internationalen Tourismus bis heute nicht gelungen ist.
Langsam, als ob er auf der Suche sei – wie wir alle, letztendlich –, fährt ein Opel mit dem Kennzeichen AUR durch den Ort. „In Aurich ist's traurich“, denkt der Globetrotter, „trotzdem wärst du besser im Friesischen geblieben. Was hat Münchenhagen, was Aurich nicht hat?“ Vielleicht dies: In Münchenhagen macht der Niedersachse einen zutraulichen Eindruck. Zwei unverdorbene junge Menschen vor der „Kneipe mit Musik“ erklären dem Fremden, daß er noch etwa drei Kilometer bis Loccum zu bewältigen habe. Ihr Wunsch „Und viel Spaß dabei“ klingt nicht höhnisch, eher aufmunternd. Dann nimmt die junge Frau die Befragung des Burschen wieder auf: Ob er sich denn langsam mal entscheiden könne, ob er mit ihr oder Sabine gehen wolle.
Während so der Globetrotter nach und nach den Ort Münchenhagen durchquert, grübelt er darüber, ob im so nahen, so fernen Loccum zu diesem Zeitpunkt wohl Frau Professor Romeiß-Stracke aus München wieder einmal zur Verschönerung von Benidorm aufruft oder ob man sich dort schon, einander annähernd, beim Weine gegenübersitzt.
Um 21 Uhr 56 an diesem Freitagabend trifft der Globetrotter im kleinen Loccum ein. Als er seinen Fuß auf die Schwelle der Evangelischen Akademie setzt, schlägt eine freundliche Glocke. Zehnmal. „Gutes Timing“, denkt der Globetrotter. Knappe zwei Stunden.
Am nächsten Morgen aber wird der Globetrotter aufmerksam lauschen, wie die Reisebuchverlegerin Thaler aus München behauptet: „Abenteuerreisen sind Grenzerfahrungen. Sie öffnen ein kleines Fenster und gewähren Einblicke in das, was die Welt im Innersten zusammenhält“, und er wird sie mit großen Augen ansehen und fragen: Tatsächlich? Und mit großer Gelassenheit wird er sich ähnlich großen Unsinn in großer Menge anhören.
Und nur dies eine Mal, als der Reiseredakteur der Frankfurter Allgemeinen, Geus, verlangt, daß jeder Reisebericht zugleich eine Anleitung zur Sinnlichkeit“ sein müsse, da wird er kurz innehalten, mit sich zu Rate gehen und sagen: Genau. Das ist die Geschichte.
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