: „Fleischsubstanzen“ und mehr
■ Lesungen zum Barbie-Thema Weiblichkeit/Projektionen
U-Bahnhof Weinmeisterstraße. Ein Häuflein Elend singt vor sich hin: „Why can't I be good?“ Immer wieder. Der Mann singt so markerschütternd falsch und dringt doch mitten in die Seele von Lou Reeds Song ein. Vielleicht ist es die Erinnerung an diese Verlorenheit des „gefallenen Engels“ in Wim Wenders „In weiter Ferne so nah“, die den Schauspieler Otto Sander ohnehin schon in die atmosphärische Nähe von Beckett-Texten rückt. Im Zusammenhang mit der Barbie-Ausstellung im Werkbund-Archiv und im Rahmen von Schauplatz Museum las er am Samstag nun tatsächlich Joyce und Beckett. Titel: „Kill your Idols“.
Mühelos, wie zufällig trifft er den Ton für die Beckettschen (Un)Wesentlichkeiten des Lebens: „Lerne zuerst gehen, dann nimm Schwimmunterricht.“ Diese Nicht-Pointen nimmt Sander galant-charmant. Stets lebt seine Simme in den Texten; selbst ein winziges Stolpern gehört bei ihm unbedingt zum Text. Wie er endlose Sätze mit kleinen Gesten erklärt, ist kaum zu überbieten.
Ganz anders Peter Fitz im gleichen Rahmen am vorausgegangenen Abend! Auch er meisterlich, sicher im Text. Doch kühl und rational verliest er die sehr unterschiedlichen Texte von Rilke, E.T.A. Hoffmann, Kokoschka, Bellmer und Pynchon über „Puppen als Poesieerreger“. Ganz ohne Regung rasseln mitunter Maschinenwortgewitter aus seinem Mund. Kaum vermag man den (bio-)physikalisch-technischen Anweisungen Villiers de l'Isle- Adam zur Konstruktion der „Eva der Zukunft“ zu folgen, da ist diese „Fleischsubstanz“ bereits zum Leben erweckt, mit einer Annäherung an weibliche Ausdünstungsdüfte versehen und – dem Gedächtnis entwichen. Amüsant war der Abend dennoch: Ein Musikautomat aus dem Jahre 1915 sorgte gar für eine doppelte Einführung in das Wesen toter Dinge. In Autoregie versagte der Polyphon- Wechsler seinen ersten Einsatz, danach spielte er doppelt solange und hatte endlich gar die Verve, Peter Fitz ins Wort zu fallen.
Die literarische Annäherung der Werkbund-Archiv-Mitglieder an die Puppe war von angemessen gehobener Kulturgüte. Überdies zeigt sie erste Wirkungen: Ich hätte da eine Barbie in Silberjubiläumspackung im Tausch gegen Becketts Werke abzugeben. Petra Brändle
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen