: Nicht nur wehrlose Opfer
■ Betr.: „Falsche Anschläge, Freunde und Opfer“, taz vom 19.1.94
[...] Franz Christoph beginnt mit einer kurzen Darstellung der Auseinandersetzung um das vom Rowohlt-Verlag geplante Buch von Singer/Kuhse. Dieser Darstellung kann ich noch im großen und ganzen zustimmen. Mal abgesehen von dem politischen Unfug, den Franz Christoph hierbei betreibt, indem er die (links)liberalen Journalisten, die Singer/Kuhse verharmlosen, relativieren, teilweise zustimmen oder in Schutz nehmen, als schlimmeres Übel als Kuhse/ Singer selbst bezeichnet und behandelt.
Aber dann, völlig unvermittelt, pinkelt er los: „Kriminalisierungsforderungen (die Bemühungen von Michael Naumann, dem Leiter des Rowohlt-Verlages, die Kritiker der geplanten Buchveröffentlichung in die terroristische Ecke zu stellen) solcher Art gegenüber Euthanasiegegnern empörte die ,aufrechten‘ Reste der niedergehenden Behindertenbewegung und ihre radikalen nichtbehinderten Stellvertreter wenig. Im Gegenteil, die Freude war groß. Eigneten sich doch diese Unterstellungen vorzüglich, dem öffentlich propagierten Bild des Hilflosen die Gegenlüge vom mächtigen und militanten Behinderten entgegenzuhalten.“
Ich weiß nicht, welche „Reste der Behindertenbewegung“ Franz Christoph meint, er liefert ja keine Belege. Tatsache ist, daß die gemeinen „Euthanasiegegner“ maßgeblich Gegnerinnen waren, behinderte und unbehinderte Frauen und Männer aus Behindertenorganisationen, Frauenprojekten, Buchläden, Verlagen oder kirchlichen Kreisen; daß sich einige von ihnen sehr wohl und deutlich über die Behauptungen Michael Naumanns empört hatten, daß aber die meisten die Behauptungen Naumanns gelassen und völlig zu recht als peinliches, unglaubwürdiges Rückzugsmanöver ansahen.
Die Freude war bei ihnen tatsächlich groß, allerdings über die gelungene, erfolgreiche Kampagne, die so viele Menschen erreichte, die – zumindest in Hamburg, dem Heimatort des Rowohlt-Verlages – die Unterstützung aller wichtigen Behindertenverbände und einiger Behindertenbeauftragter der Bundesländer bekam, die so viel Wirkung innerhalb wie außerhalb des Verlages erzielte, daß dieser es vorzog, das Buch nicht zu veröffentlichen. Der Erfolg wird ein wenig dadurch geschmälert, daß das Buch mittlerweile in einem kleinen Verlag auf deutsch erschienen ist. [...] Wenn als Nebenprodukt dieser Kampagne das „öffentlich propagierte Bild“ der behinderten Menschen ein wenig verschoben wurde, wenn sichtbar geworden ist, daß diese nicht nur wehrlose Opfer sind, dann ist das allerdings auch ein Grund zur Freude. [...]
War Christophs Beitrag bisher vor allem dumm, so wird er jetzt außerdem unerträglich dreist. „Auf die Zuneigung ihrer nichtbehinderten Schwestern aus der Frauenbewegung schielend, erklärten sich behinderte Frauen gleich zu doppelt Unterdrückten. Wenn in Ethikbüchern mittlerweile auf Glücks- und Leideinheiten zurückgegriffen wird und bei einem Überhang an unterstellten Leideinheiten die Lebensberechtigung verneint wird: Wie können wir uns wehren, wenn wir – was Unterdrückung betrifft – in unseren eigenen Reihen eine ähnliche Rechenlogik akzeptieren?“
[...] Wenn Franz Christoph bestreitet, daß es eine – nicht im mathematisch-buchhalterischen, sondern im politisch-sozialen Sinne – doppelte Unterdrückung der behinderten Frauen gibt, dann möge er die Frage beantworten, welche besonderen Formen der Unterdrückung es nicht gibt. Gibt es keine besondere, historisch gewachsene, ständig modifizierte, aber niemals aufgehobene Unterdrückung, Benachteiligung und Diskriminierung der Frauen in ihrer Gesamtheit als Geschlecht, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft und Lage?
Oder gibt es keine besondere, historisch gewachsene, oft modifizierte, unterschiedlich ausgeprägte, aber niemals aufgehobene Unterdrückung, Benachteiligung und Diskriminierung behinderter Menschen in ihrer Gesamtheit – von der Kopfstreichelmentalität unserer unbehinderten Mitmenschen über Aussonderung bis zur Vernichtung als „Endlösung der sozialen Frage“?
Wenn es beide besonderen Unterdrückungen gibt – und wer will das ernsthaft bestreiten? –, dann fallen sie bei behinderten Frauen zusammen. Nicht mathematisch- rechnerisch, sondern als dialektischer Prozeß, der die besonderen Formen beider Unterdrückungen widersprüchlich verknüpft, mal beide gegenseitig verstärkt, mal einander aufhebt, der auf jeden Fall aber das Leben aller behinderten Frauen bis hinein ins Hinterstübchen des Bewußtseins maßgeblich bestimmt.
Zu Franz Christophs Vergleich mit der utilitaristischen Ethik nur soviel: Peter Singer und die anderen Bioethiker sind direkt oder indirekt Lohnschreiber der Bioindustrie. Ihr Auftrag ist es, für den Spätkapitalismus, der nicht nur alles zur Ware gemacht hat oder dabei ist, zu machen – die Arbeitskraft des Menschen, seine Organe, seine Gesinnung, seine Gene, sein Bewußtsein, seine biologischen Funktionen, eben einfach alles –, sondern der auch immer mehr dabei ist, die Natur zu zerstören und eine neue „Natur“ zu schaffen – unzählbare neue chemische Produkte, Tierzüchtung, demnächst Menschenzüchtung – und der daher vor der Notwendigkeit steht, buchstäblich alles meß- und bewertbar zu machen und die Grenzen des moralisch Erlaubten, die noch von der alten Natur gesetzt wurden, aufzuheben, eine diesen Notwendigkeiten angepaßte Gebrauchsethik zu liefern. Das heißt u.a., daß das, was bei Singer und Co. so wenig philosophisch und um so mehr buchhalterisch (Gesamtsumme des Glücks...) daherkommt, genau so menschenfeindlich, die Kosten und den Nutzen berechnend gemeint ist, wie es da steht. [...] Gerlof Gleiss, Hamburg
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