Kein Geld für Brennstäbe: Tschernobyl vom Netz?

■ Triumph der Marktwirtschaft: Russen wollen keinen Brennstoff mehr liefern

Kiew (AP/AFP/taz) – Was weder die Vernunft noch der Bundesumweltminister Klaus Töpfer geschafft hat, gelingt jetzt offenbar der Mangel-Marktwirtschaft. Wie die russische Nachrichtenagentur Interfax meldete, muß das Atomkraftwerk von Tschernobyl nach Informationen der ukrainischen Energiebehörde wegen des Fehlens von Kernbrennstoff vermutlich bald abgeschaltet werden. Wie der stellvertretende Leiter der Behörde, Nur Nigmatulin, am Samstag erklärte, wurde der Reaktorblock Nr. 3 in Tschernobyl bereits in der vergangenen Woche auf halbe Leistung heruntergefahren. Der Brennstoff reiche nur noch für fünfzehn Tage.

Rußland, das die Ukraine als einziges Land mit spaltbarem Material beliefert, hatte laut Nigmatulin der ukrainischen Energiebehörde schon am 20. Januar mitgeteilt, daß es seine Kernbrennstofflieferungen wegen offener Rechnungen in Höhe von 120 Milliarden Rubel einstelle.

Wie Nigmatulin weiter erklärte, produziert der Reaktor Nr. 1 in Tschernobyl ebenfalls nur noch 75 Prozent des zuvor gelieferten Stroms und kann nur noch bis Ende März betrieben werden. Die beiden anderen Reaktoren waren nach der Atomkatastrophe im April 1986 abgeschaltet worden. Die ursprünglich noch für dieses Jahr geplante Wiederinbetriebnahme des Reaktors Nr. 2, der Schauplatz des Desasters von 1986 war, muß vermutlich auch abgeblasen werden. Die Energiebehörde der Ukraine hatte ursprünglich geplant, Tschernobyl vollständig vom Netz zu nehmen, doch das Parlament hatte diesen Beschluß im Oktober wieder gekippt, um die Energieversorgung sicherzustellen, die zu mehr als dreißig Prozent von Atomreaktoren geleistet wird. Die Reaktoren von Tschernobyl liefern dabei rund zehn Prozent des in der Ukraine produzierten Stroms. Aufgrund des Brennstoffmangels werde wahrscheinlich auch das Atomkraftwerk Saporoschje geschlossen, hieß es.

Von den 120 Milliarden Rubel, die die Ukraine dem russischen Nachbarn für die Lieferung von Kernbrennstoff im Jahr 1993 schuldet, müssen Nigmatulin zufolge 40 Milliarden Rubel, etwa 45 Millionen Mark, sofort bezahlt werden, wenn der Stopp der Lieferungen noch abgewendet werden soll. Man habe an den russischen Ministerpräsidenten Viktor Tschernomyrdin appelliert, die Lieferungen wiederaufzunehmen, doch spielten auch politische Gründe und Sicherheitsvorbehalte eine Rolle. Rußland verlangt von der Ukraine die Vernichtung ihrer Atomwaffen und die Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrags.