Überholen verboten!

■ Radomir Simunek fuhr bei der Radcross-WM in den Knast

Kohsijde (taz) – Wenn Radomir Simunek am Dienstag morgen auf seiner Pritsche erwacht, hat ihn die Zeit endgültig eingeholt. Seine müden Blicke werden auf kalten Beton knallen, seine Hände werden die sterile Steife der Anstaltsbettwäsche fühlen. Gestern noch war Simunek ein gefeierter Sportstar. Seit heute ist er Häftling im Bezirksgefängnis Plzen, Tschechische Republik.

Im Herbst 1992 raste Simunek auf der Landstraße von Prag nach Hause. Es war eine verregnete Nacht. Nie ist geklärt worden, ob er betrunken fuhr. An einer leichten Steigung überholte der Tscheche, als vor ihm zwei Lichter auftauchten, denen er nicht mehr ausweichen kann. Bis heute nicht. Der damals 30jährige war Überholmanöver gewohnt – allerdings auf zwei Rädern und auf Rennstrecken. Radomir Simunek ist Querfeldeinfahrer. Als erstem Radcrosser der Welt gelang ihm der Gewinn der Weltmeisterschaften bei den Junioren (1980 in Wetzikon/ Schweiz), bei den Amateuren (1983 in Birmingham und 1983 in Oss) und bei den Berufsfahrern (1991 in Gieten). Er war einer der bestbezahlten Profis seiner Sportart, er war der tschechische Meister der letzten Jahre, er war in seiner Heimat ein beliebter Mann. Aber dies spielt keine Rolle, als über die fahrlässige Tötung von zwei Männern und einer Frau verhandelt wurde. Gestorben nach einem Überholmanöver auf der Straße zwischen Prag und Plzen.

Radomir Simunek verdrängte sein Schicksal, als er sein Rad an den Start der Querfeldein-Weltmeisterschaft in Kohsijde/Belgien schob. „Ich denke nicht an morgen“, beendete er dieses Thema, blieb ruhig und forderte freundlich: „Fragen Sie mich bitte etwas anderes.“ Dann gab er gerne Auskunft zu den immer noch wichtigen Themen seines Radfahrerlebens. Er erklärte Reifenstärke und Bremsenabstand, Speichenräder und Kettenschutz. Seit zwei Wochen trainierte der Ex-Weltmeister in den Nordsee-Dünen zwischen Ostende und Dünenkirchen. Er schuftete sich ab in der Einsamkeit Westflanderns, verzichtete auf seine Familie mit zwei Kindern, die er seit heute nur noch besuchsweise sehen wird.

Das Amtsgericht Plzen verurteilte Radomir Simunek zu zwei Jahren Gefängnis. Sein Anwalt ging in die Revision und erreichte eine Strafverkürzung auf 18 Monate. „Ich habe nie an eine echte Chance geglaubt“, sagt der Tscheche heute über sein anschließendes Gnadengesuch beim Staatspräsidenten. Einen Prominenten-Bonus bekam er nicht. „Ich erhielt lediglich einen erleichterten Strafvollzug, der mir regelmäßiges Training erlaubt.“ Nach neun Monaten könnte Simunek bei guter Führung entlassen werden. Immerhin ein Vierteljahr vor der nächsten Weltmeisterschaft im Januar 1995 in Eschenbach am Zürcher See.

„Da komme ich wieder“, sprach sich Simunek nach dem WM-Rennen in Kohsije neuen Mut zu. Aber damit meinte er weniger die Haft, sondern vielmehr die gerade erlebte sportliche Schmach. Simunek, der sich beim Unfall im Herbst 1992 beide Sprunggelenke brach, wurde in diesem Jahr zwar wieder Landesmeister, der internationalen Konkurrenz strampelte er jedoch hinterher.

Der belgische Kurs war maßgeschneidert für Belgier. Weltcup- Sieger Paul Herijgers holte in der letzten Runde den jungen Holländer Richard Groenendaal (22) nach sieben Runden Alleinfahrt und -lauf ein, klopfte ihm siegesbewußt auf die Schulter, um unverzüglich 20.000 feiernde Landsleute mit einem weltmeisterlichen Schlußspurt zu beglücken.

Radomir Simunek hatte nur Kontakt zur Spitze, als er in der ersten Startreihe stand. Vielleicht spürte er doch während des Rennens, daß ihn jeder Schritt durch den knöchelhohen Sand ein Stück weiter ins Gefängnis bringt. Am Montag um spätestens 16 Uhr mußte sich Radomir Simunek zum Haftantritt melden. Heute ist sein erster kompletter Knasttag. Die Konkurrenz fuhr dem 31jährigen zuletzt öfter weg. Aber schlimmer wird für ihn sein: Jetzt läuft dem viermaligen Weltmeister die Zeit davon. Ole Richards