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„Warum haben sie uns zu Bettlern gemacht?“

Keine Heimat im Exil: Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien leiden unter Apathie, Schuldgefühlen und Depressionen  ■ Von Vera Gaserow

„Am Anfang“, sagt Mirjana, „am Anfang schien es mir unwichtig, daß ich alles, mein Heim meine Arbeit, verlassen mußte. Ich dachte nur: Hauptsache, wir retten unser Leben. Doch allmählich kann ich das nicht mehr hören – Hauptsache, wir leben! Es ist doch auch wichtig, wie man lebt!“

Mirjana lebt in Berlin. Zusammen mit ihrem Mann und den beiden Kindern hat sie es geschafft: sie konnte aus Bosnien fliehen. Damals vor zwei Jahren, war das Überleben das größte Glück. Heute hat der Alltag dieses Glück längst überdeckt. Immer mehr Flüchtlinge aus dem früheren Jugoslawien leiden unter der Situation im Exil: unter den Wohnbedingungen, wo die mehrköpfige Familie seit Jahren in nur einem Zimmer leben muß, unter der Demütigung, sich in der fremden Sprache nur wie ein Kleinkind verständigen zu können, unter der Erniedrigung, die jeder Gang zum Sozialamt bedeutet, unter der Ungewißheit, ob nicht morgen schon die Geduld der deutschen Behörden vorbei ist, unter der doppelten Perspektivlosigkeit, keine Zukunft in Deutschland zu haben, aber auch keine in der alten Heimat.

Immer mehr Kriegsflüchtlinge reagieren denn auch mit psychosomatischen Erkrankungen auf diese Situation: Herzbeschwerden, Magengeschwüre, Schlaflosigkeit, Apathie, Verschwörungstheorien und schwere Depressionen beobachtet die Beratungsstelle der Arbeiterwohlfahrt für Frauen aus dem ehemaligen Jugoslawien in Berlin. Interviews, die die Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle mit den Flüchtlingsfrauen geführt haben, veranschaulichen das.

Da ist zum Beispiel Fariha aus Sarajevo. Im April 92 kam sie mit ihrer Tochter nach Deutschland. Heute schwankt sie von Tag zu Tag, ob sie bleiben will. „Jeden Tag denke ich darüber anders. Manchmal sage ich mir, ach, was soll's, ich könnte mich hier schon eingewöhnen. Ich könnte etwas planen wegen meiner Tochter, und manchmal denke ich: Um Gottes willen. Ich kehre zurück, auch wenn wir beide vor Hunger sterben müssen. Ich weiß nicht, diese Meinungen ändern sich so. Das belastet mich.“

Nächtelang kann Fariha nicht schlafen, weil das schlechte Gewissen sie nicht loslassen will: „Wenn ich diese Bilder aus Sarajevo sehe, dann sage ich mir: Warum muß mein Kind eine Ausnahme sein? Warum ist es nicht unten mit anderen Kindern? Manchmal bin ich auch sauer, daß ich überhaupt hergekommen bin. Es belastet mich schrecklich, daß ich mich gerettet habe und die anderen sind unten geblieben. Wenn ich daran denke, daß meine Mutter dieses aushalten kann, dann frage ich mich: Warum habe ich gehen müssen?“

Milanka, eine Serbin aus Bosnien, leidet unter Depressionen. Sie macht sich und ihre ganze Volksgruppe für den Krieg verantwortlich und sucht gleichzeitig krampfhaft nach Beweisen, die ihre Landsleute entlasten. Starke Schuldgefühle, aber auch Scham und das Gefühl von tiefer Ungerechtigkeit beobachtet Zorica Eterovic, die Psychologin der Beratungsstelle, bei vielen Ratsuchenden. „Warum ich?“ „Was hätte ich tun müssen, damit mir das nicht geschieht? Hätte man schon viel früher gehen sollen oder lieber gar nicht?“ Oder hätte man, wie die 20jährige Krankenschwester Dijana aus Banja Luka meint, „viel mehr Mut“ haben müssen? „Ich schäme mich, daß ich aus Jugoslawien komme“, sagt Hafiza aus Tuzla, „ich schäme mich für alles, was uns seit Jahren passiert.“

Wer klarsieht, muß Depressionen bekommen

Die Lebenssituation in Deutschland verstärkt das Gefühl der Scham. Viele der Frauen haben in ihrer Heimat in qualifizierten Berufen gearbeitet. Sie waren Lehrerinnen, Ärztinnen, Technikerinnen. „Noch nie, niemals in meinem Leben habe ich Geld bekommen, ohne etwas dafür zu tun“, beteuert Hafiza, die 15 Jahre lang an der Medizinischen Fakultät ihrer Heimatstadt gearbeitet hat. Jetzt würde sie jeden Job annehmen, um der Sozialhilfe zu entgehen. Bei aller Achtung und allem Dank gegenüber dem Land, das sie aufgenommen hat, empfindet sie auch die Erniedrigung, „daß sie uns zu Bettlern gemacht haben“.

„Am Anfang“, berichtet Jasenka Villbrandt, Mitarbeiterin der AWO-Beratungsstelle, „waren viele Frauen noch sehr optimistisch. Die haben gedacht, wenn sie sich nur bemühen und die Sprache lernen, dann werden sie eine Arbeit und eine Wohnung finden. Inzwischen haben viele resigniert, denn die Grenzen werden klarer. Sie merken, daß es gar nichts zählt, ob sie sich um Arbeit bemühen, ob sie die Sprache lernen, ob sie sich integriert haben – sie können trotzdem von einem Monat auf den anderen zurückgeschickt werden. Wenn ihnen die objektive Lage klar wird, da können sie eigentlich nur depressiv werden.“

„Ich bin psychisch müde“, schreibt Branka aus Karlovac über sich. 1991 floh sie mit ihrem Mann und der dreijährigen Tochter nach Deutschland. Zwei Reisetaschen waren der einzige Besitz. Ein halbes Jahr lang lebten sie mit dem Schwiegervater und der Familie des Cousins in einem einzigen Zimmer. Kein Raum für Ruhe, keiner für Intimität. Heute träumt Branka davon, endlich einmal allein zu sein, „wenigstens mal in Ruhe was lesen können“.

Für sich selbst scheinen etliche Flüchtlingsfrauen kaum noch eine bessere Zukunft zu erwarten. Um so mehr setzten sie all ihre Energien in die Zukunft ihrer Kinder – und verzweifeln gleichzeitig daran, daß ihre fünfzehn-, sechzehnjährigen Töchter und Söhne in Deutschland zum Nichtstun verurteilt sind. Aus dem Schulsystem fallen sie in diesem Alter heraus, für eine Arbeit sind sie noch zu jung, und eine Lehrstelle finden sie nicht. Die Kinder fungieren häufig als Medium, das die eigenen Zukunftsängste und -sorgen der Eltern transportiert. „Wenn mein Haus zerstört wird“, sagt Mirjana, „kann man ein neues aufbauen, aber meine Kinder haben eine Zukunft, eine Perspektive verloren. Das ist das Schrecklichste. Die Hoffnung ist dahin.“

Viele Familien würden am liebsten sofort in ihre Heimat zurückgehen, wenn sie könnten. Aber auch der Gedanke an Rückkehr wird von starken Ängsten überlagert: Wie werden diejenigen reagieren, die man damals bei der Flucht zurückgelassen hat? Werden sie Vorwürfe machen? Werden sie sich rächen? Und wie kann überhaupt ein Zusammenleben mit den alten Nachbarn aussehen? „Der Krieg“, meint Psychologin Zorica Eterovic, „hat das Vertrauen in die Menschheit in Frage gestellt. Und das ist das Schlimmste. Keiner weiß mehr: Wer ist mein Freund? Habe ich überhaupt noch Freunde? Wem kann ich vertrauen?“

Doch nicht nur das Vertrauen ist verlorengegangen, auch ein Stück der eigenen Identität. Viele Flüchtlinge legen überhaupt keinen Wert darauf, welcher Nationalität sie angehören. Einigen wurde die ethnische Zugehörigkeit erst bewußt, als sie an der Grenze Paß oder Geburtsurkunde vorzeigen mußten. Viele bezeichnen sich auch heute noch als Jugoslawinnen oder Bosnierinnen, doch nun sollen sie sich als Serbinnen, Kroatinnen oder Muslime fühlen – so wollen es die Behörden, und so wollen es oft auch die schon länger in Deutschland lebenden Verwandten. Besonders Flüchtlinge, die in gemischtnationalen Ehen leben, leiden unter diesem Konflikt. Für sie wird es in absehbarer Zeit keinerlei Rückkehrmöglichkeit geben. Da ist zum Beispiel die 26jährige Mara. Sie ist Kroatin aus Bosnien. Ihr Mann ist Serbe aus Serbien. Ihr Heimatdorf war ein kroatisches Dorf. „Heute gibt es dort nicht einen Kroaten mehr, nicht ein Haus ist unbeschädigt. Und das serbische Dorf ist völlig intakt. Ich habe keine Vorstellung, wie man sich ein gemeinsames Weiterleben dort vorstellen könnte. Wohin können wir? Zurück in dieses Gebiet? Nein! Dort wird es nie wieder so sein wie vorher nach so vielen Toten. Wir haben dort keinen Platz mehr. Zumindest wir in gemischten Ehen.“

Haben wir unser Land im Stich gelassen?

Maras Beziehung zu einem serbischen Mann hat der Krieg nicht erschüttern können. Doch in anderen Ehen führt die unterschiedliche Herkunft zu extremen Spannungen, nicht so sehr zwischen den Partnern, sondern mit Familienangehörigen, auf die man häufig angewiesen ist: Welcher Gruppe fühlt man sich zugehörig? Welchen Zeitungen glaubt man? Wie sollen die Kinder erzogen werden? In welchen Landesteil würde man bei einer Teilung zurückgehen?

Über die Probleme, die Krieg und Flucht in ihre ganz privaten Beziehungen hineingetragen haben, reden die Frauen nur sehr zurückhaltend. Aber sie sind oft unübersehbar. Die Mitarbeiterinnen der Berliner Beratungsstelle beobachten immer wieder ähnliche Konflikte: Die Flucht hat die altbekannte Ordnung in Frage gestellt. Die Männer, die vorher die stärkeren Beziehungen zur Außenwelt hatten, sind jetzt oft unfähiger, mit der neuen Situation zurechtzukommen, als die Frauen. „Die Männer“, beobachtet Jasenka Villbrandt, „kapseln sich nach einigen Mißerfolgen bei der Arbeitssuche ab. Sie sitzen im Heim und trinken. Sie können es nicht ertragen, wenn ihre Frau schneller Deutsch lernt oder häufiger unterwegs ist als sie selber. Sie kommen mit der neuen Rolle nicht klar. Sie leiden unter extremen Schuldgefühlen, daß sie ihr Land im Stich gelassen haben. Da gibt es einfach eine andere Erwartung an Männer in einer Kriegssituation.“

Mit ihren psychischen Problemen bestimmen die Männer häufig das Familienleben: „Die ziehen ihre ganze Familie runter und erlauben eine Entwicklung von Lebenslust nicht“, sagt Jasenka Villbrandt. „Wir haben Frauen, die man als lebenslustig und sehr aktiv bezeichnen könnte. Die sind bisher auch ganz gut zurechtgekommen in Deutschland, und dennoch sind sie dermaßen depressiv, weil zu Hause der Mann sitzt und nichts zu tun hat und eine Stimmung verbreitet, die nicht auszuhalten ist.“

Vor zwei Jahren hat Zorica Eterovic die Besucherinnen der Beratungsstelle mit ihren verschiedenen psychischen Problemen in einer Gruppe zusammengeführt. Ein wichtiger Teil der Arbeit besteht darin, die Frauen in kleinen Schritten zu bestärken, aus der bloßen Opferrolle herauszutreten. Amela aus Mostar gehört zu denen, die das geschafft haben. „Ich denke nicht mehr täglich an die Rückkehr, sondern versuche, ein ganz normales Leben hier zu führen. Es hilft mir nicht, wenn ich mich damit belaste, daß mein Aufenthalt unsicher ist. Denn was heißt unsicher? In Mostar, meiner Heimat, hatte ich de facto die Erlaubnis, mein Leben lang zu bleiben. Dennoch zwangen mich die Gegebenheiten, aus der Stadt zu gehen. Sicherheit ist nur relativ.“

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