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Neue Scheindebatte über Luftangriffe

■ Nach dem Massaker in Sarajevo wartet die Nato nun auf eine Entscheidung Butros Ghalis über militärische Interventionen / Nato-Regierungen weiter uneinig / Clinton will keinen Alleingang

Genf – Nach dem folgenschwersten Massaker seit Beginn der Belagerung Sarajevos im April 92 ist die innerwestliche Scheindebatte über Luftangriffe auf serbische Stellungen wieder voll entbrannt. Am Samstag waren durch Artilleriebeschuß des Zentralmarkts der bosnischen Hauptstadt 68 Menschen getötet und 200 zum Teil lebensgefährlich verletzt worden. Nach ersten Erkenntnissen der Unprofor erfolgte der Abschuß der Artilleriegranate vom Kaliber 120 Millimeter aus einem von serbischen Truppen kontrollierten Gebiet im Nordosten Sarajevos. Trotzdem wollte die UNO sich nicht festlegen. „Die Granate ist vom Dach eines Verkaufsstands abgelenkt worden, explodiert und hat keinen exakt vermeßbaren Krater auf dem Boden hinterlassen“, teilte ein Sprecher des Hauptquartiers der UNO-Friedenstruppen in Zagreb mit. „Auffallend ist nur, daß das Geschoß mit höchster Präzision auf den Marktplatz abgefeuert worden ist, über hohe Gebäude hinweg, und das zu einem Zeitpunkt, als die Explosion zwangsläufig hohe Verluste fordern mußte.“

Serbenführer Karadžić beschuldigte hingegen die bosnische Regierungsarmee. Zur endgültigen Klärung der Verantwortung für das Massaker begaben sich gestern der Unprofor-Oberkommandierende für ganz Ex-Jugoslawien, General Cot, sowie der UNO-Sonderbeauftragte Akashi nach Sarajevo.

Noch beim Brüsseler Nato-Gipfel vom 10. Januar hatten die 16 Mitgliedsstaaten die im August 93 zur Vorbedingung von Luftangriffen gemachte „Strangulierung“ Sarajevos offiziell bestritten. Nach dem Massaker vom Samstag forderten jetzt Frankreich, Belgien und die Türkei Luftangriffe auf die serbischen Artilleriestellungen, die seit nunmehr fast zwei Jahren den Belagerungsring um die bosnische Haupstadt bilden. Frankreich schlug vor, den bereits zu Beginn der Genfer Verhandlungen im September 92 im Prinzip vereinbarten Rückzug von Artilleriegeschützen und anderen schweren Waffen mit der ultimativen Androhung von Luftangriffen zu erzwingen. Frankreich, Großbritannien, Kanada, die Niederlande und Spanien, die seit August letzten Jahres sämtlich Kampfflugzeuge auf dem Nato- Stützpunkt im norditalienischen Ancona stationiert haben und durchaus alleine zu Luftangriffen in der Lage wären, machen jedoch die Beteiligung der US-Luftwaffe zur Vorbedingung. Bei einer internationalen sicherheitspolitischen Konferenz in München (ehemals „Wehrkundetagung“) sagte der neue US-Verteidigungsminister Perry am Wochenende, Voraussetzung für Luftangriffe sei eine Verständigung mit den Verbündeten. „Wir werden diesen Schritt nicht einseitig durchführen; nicht, wenn 28.000 Soldaten unserer Verbündeten in Bosnien stehen“, sagte er in München. Zugleich plädierte er dafür, die Folgen militärischen Eingreifens aus der Luft vorab genau zu prüfen.

Perrys britischer Amtskollege Rifkind sprach sich bei der gleichen Veranstaltung jedoch ebenso gegen Luftangriffe aus wie der niederländische Außenminister Kojmans gegenüber Journalisten seines Landes. Dagegen hat die Bundesregierung gefordert, weiteren Gewaltakten gegen die Zivilbevölkerung notfalls auch unter Anwendung gezielter militärischer Maßnahmen vorzubeugen. US-Präsident Clinton beriet gestern mit einem Krisenstab über militärische Maßnahmen.

In einem bislang nicht veröffentlichten Memorandum an Präsident Izetbegović und Premierminister Silajdžić hatten die Auslandsbotschafter Bosnien-Herzegowinas nach einem Treffen in der letzten Woche in Wien von einer weiteren Teilnahme der Regierung an der Genfer Jugoslawienkonferenz abgeraten. Die Verhandlungen sanktionierten nur eine Dreiteilung des Landes.

Nach Erhalt des Memorandums gab Izetbegović über Radio Sarajevo bekannt, er werde der für Donnerstag angesetzten Genfer Runde fernbleiben, weil von den Verhandlungen nichts zu erwarten sei. Zugleich kündigte der Präsident allerdings an, Premierminister Silajdžić werde nach Genf reisen.Siehe Seiten 3 und 4

Andreas Zumach

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