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Der Streit ums Atom in Chatainais

In einem kleinen Dorf, einem möglichem Standort für ein End- oder Zwischenlager für französischen Atommüll, ist das Klima schon vergiftet, bevor die Entscheidung gefallen ist  ■ Aus Chatainais Dorothea Hahn

Chatainais wurde auserkoren, ohne daß auch nur eine(r) seiner 360 EinwohnerInnen etwas davon ahnte. Ende November – aus den Schornsteinen stieg bereits der Rauch der winterlichen Holzfeuer – stand es in der Provinzzeitung: Der Granitboden unter dem Dorf im westfranzösischen Departement Vienne ist einer von vier möglichen Standorten für ein unterirdisches Atomlabor. Er sei geeignet, um in einer Tiefe von 500 oder 1.000 Metern die Entsorgung von Elementen wie Americium, Strontium und Jod 129 zu untersuchen, die noch nach Millionen Jahren unverändert strahlen. René Monory, als Vorsitzender des Generalrats der höchste politische Repräsentant des Departements, der als Senatspräsident zugleich der zweite Mann im französischen Staat ist, hatte das Projekt eingefädelt. Die Anlage soll das seit Jahren drängende Atommüllproblem des Landes lösen, zugleich wollte Monory dem verarmten Süden seines Departements etwas Gutes zukommen lassen.

In den Häusern aus massivem Naturstein rund um die romanische Dorfkirche Saint Pierre verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. Seit Jahren war in Chatainais nichts Aufregenderes mehr passiert als das Dorffest im Juli und die immer häufigeren Beerdigungsfeiern. Zwei Drittel der Einwohner leben von der bäuerlichen Rente, und die Jungen streben in die Ferne. Bevölkerungswachstum gibt es nur ganz vereinzelt in den Gehöften im Tal, wo in den letzten 20 Jahren ein paar neue Familien eingezogen sind. Sie gelten weiterhin als Fremde, auch wenn fast alle aus der Region stammen.

Im Dorf haben die meisten Geschäfte aufgegeben. An vielen Häusern bleiben die hölzernen Fensterläden vor den armdicken Mauern Tag und Nacht verschlossen. Nur die Bäckerei, die Bar und das kleine Restaurant sind übriggeblieben. Manchmal verirren sich im Sommer ein paar Touristen hierher, die auf den Spuren der Jakobspilger die mittelalterlichen Burgen und Klöster besuchen. Die Schafzucht, die Wolle, der Käse – von denen Chatainais früher lebte – rentieren sich nicht mehr.

Ein Ort voller Atom-Neulinge

Mit dem Atomprogramm hatten sich die Bürger von Chatainais nie zuvor befaßt – auch nicht, als vor einigen Jahren der Bau des 60 Kilometer nordöstlich gelegenen AKW Civaux begann. Aber jetzt ging es um eine Investition in Milliardenhöhe im eigenen Dorf, um 120 neue Arbeitsplätze und eine jährliche Finanzspritze von umgerechnet 18 Millionen Mark für alle umliegenden Gemeinden.

Auch Chatainais' langjähriger sozialistischer Bürgermeister Michel Faudry war ein Atom-Neuling, als er zusammen mit KollegInnen aus den Nachbarorten am 30. November zu der Sitzung in die Departementhauptstadt Poitiers bestellt wurde. Dort erfuhr er von dem Atommüllbeauftragten der französischen Regierung, Christian Bataille, daß die Regierung die Umgebungen von Bagnols-sur- Cèze an der Rhône, von Verdun an der Meuse, von Poissons an der Marne und eben auch den Süden des Departements Vienne an der Charente anvisiert habe. Zwei dieser Gebiete sollen in den nächsten Monaten Standorte für ein Atomforschungslabor werden, einer davon soll in 15 Jahren möglichst zu einem Zwischen- und Endlager ausgebaut werden.

Mehr noch als nach stabilen Ton-, Schiefer-, Salz- und Granitformationen hatte der Atommüllbeauftragte Bataille nach dem geeigneten politischen Terrain für die Anlage gesucht. Er sollte schließlich einen Ausweg aus dem Debakel von 1990 finden, als die Regierung ein Atommüllmoratorium verkünden mußte, nachdem ihre Suche nach einer Endlagerstätte zu Aufständen an allen möglichen Standorten geführt hatte.

Seither ist nicht nur der Atommüllberg aus Frankreichs Reaktoren beträchtlich gewachsen, sondern Paris hat auch einen behutsameren Weg eingeschlagen. Das im Dezember 1991 verabschiedete Atommüllgesetz spricht nur noch von „Forschung“ und „reversibler Zwischenlagerung“ und verschiebt die „Endlagerung“ auf ein „späteres Gesetz“. Es propagiert „Transparenz“ bei der Standortbestimmung und verspricht, daß ausländischer Atommüll in Frankreich grundsätzlich nicht gelagert wird.

Bis zu dem Treffen mit den Dorfbürgermeistern aus dem Süden des Departements Vienne schien Batailles Mission erfolgreich. Anders als vier Jahre zuvor blieb die Bevölkerung in den ausgewählten Standorten ruhig. Die Vorfreude auf den kommenden Geldsegen und die Arbeitsplätze überwog.

Von Chatainais als Standort sei weder bei der Sitzung im November noch später je die Rede gewesen, versichern die Verantwortlichen. Es sei immer nur um die Region im Süden des Departements Vienne mit immerhin rund zwanzig Dörfern gegangen. Dennoch spaltete sich Anfang Dezember von allen Dörfer ausgerechnet Chatainais in zwei feindliche Lager, die alle traditionellen politischen Grenzen durchkreuzten.

Binnen weniger Tage hatten die meisten Chatainaiser eine Meinung. Die Befürworter hielten sich an die Formulierung vom „Forschungslabor“. Schließlich hatten sogar die gewählten Notablen im Generalrat das Projekt als „Manna“ bezeichnet und versichert: „Forschung tut niemand weh.“ Über ein Endlager für Atommüll wollen die pensionierten alten Bauern, die täglich ihre Karten auf die rotweiß karierten Plastiktischdecken in der Dorfbar kloppen, nicht spekulieren. Das werde „erst im nächsten Jahrtausend“ entschieden und sei nur eine unter vielen Möglichkeiten.

Der Architekt Daniel Antoine beruhigte sich damit, daß ein Forschungslabor schließlich nicht so gefährlich sei. Erst von Freunden in Paris erfuhr er, daß Batailles Auftrag die Lösung des französischen Atommüllproblems sei.

Der Schreiner Daniel Babaud erinnerte sich an seine Jugendjahre, während deren das französische Atomprogramm entstand und in denen er sich manchmal fragte, „was die eines Tages mit den Abfällen machen werden“. Babaud ist überzeugt, daß das Forschungslabor nur eine Tarnbezeichnung für das eigentlich gemeinte Endlager ist, „sonst würde die Regierung keine 1,5 Milliarden Franc investieren, bis zu 1.000 Meter tief bohren und eine ganze Region subventionieren“.

4.200 Kubikmeter Atommüll der Kategorien „B“ und „C“ – mit Halbwertzeiten zwischen 1.600 und 14 Milliarden Jahren – produzieren Frankreichs AKWs nach eigenen Angaben jährlich. Der hoch radioaktive Müll ist provisorisch „zwischengelagert“, meist in der Nähe der AKWs. Eine dauerhafte Lösung hat das Land genausowenig gefunden wie seine Nachbarn. „Wenn das Ganze erst einmal 1.000 Meter tief im Granit eingelagert und zubetoniert ist, gibt es kein Zurück mehr“, sagt Babaud.

Die Chatainaiser begannen sich gegenseitig als Maschinenstürmer oder als von der Atomlobby gekauft zu verdächtigen. „Plötzlich geht es hier nur noch um Geld“, sagt Roland Roche, pensionierter Sportlehrer, der um „die Seele dieses Landes“ fürchtet, seit das Forschungslabor ins Gespräch kam.

Die Gegner gründeten ein Komitee (Comité de Coordination Vienne-Charente) mit Babaud an der Spitze. Sie organisierten Demonstrationen mit mehreren hundert Teilnehmern, schrieben Petitionen und organisierten gutbesuchte Veranstaltungen. Eines Tages tauchten Totenköpfe und Graffiti auf den Mauern der Rathäuser auf. „Nein zum Atommüll“ und „Chatainais steht nicht zum Verkauf“ hieß es. Seither ist es mit dem Frieden vorbei. Das galt als „Sachbeschädigung“ und als eine Art von „Terrorismus“, so etwas war im Süden des Departements Vienne noch nie vorgekommen.

Bürgermeister Michel Faudry, der als einer von wenigen noch keine feste Meinung zu dem Forschungslabor hatte, klagte Mitte Dezember über anonyme Anrufe und Drohbriefe. Alte Freunde hatten dem beliebten Mann den Rücken gekehrt. In dem kleinen Dorf begannen die Nachbarn zu tuscheln. Der Gruß über die Straße hing nun plötzlich vom Für oder Wider zu dem Forschungslabor ab.

Um die Bürger von Chatainais wieder auf den demokratischen Weg zurückzuführen, kam Bürgermeister Faudry auf die Idee, ein Referendum zu machen. Der Präfekt winkte ab. Das Forschungslabor sei ein Projekt von nationalem Interesse und könne nicht der Meinung einer Dorfbevölkerung anheimgestellt werden. Daraufhin finanzierte Faudry die illegale Befragung aus eigener Tasche. Die „Nationale Agentur für Atommüll“ (Andra) schickte Kisten mit Hochglanzbroschüren über das Projekt an alle Familien. Bei ungewohnt hoher Wahlbeteiligung von 80 Prozent stimmten am 9. Januar 60 Prozent der Bürger „für ein nukleares Forschungslabor“.

Das Referendum schaffte keine Entspannung. Zwei Tage zuvor hatte ein anonymer Brief an alle Haushalte von Chatainais die Gegner als „Marginale“ und „Schmarotzer“ bezeichnet, die die Gemeinde „destabilisieren“ wollten. In der Nacht vor dem Referendum brannte ein paar Kilometer entfernt die Scheune eines Provinznotablen ab, der sich für das Projekt ausgesprochen hatte. Es hieß: „Das waren die Umweltschützer.“ Sämtliche Führungsmitglieder des Komitees mußten zum Verhör. Der einzige Gegner des Projektes im Rathaus von Chatainais mußte seine Stelle aufgeben. Janicki Demezil verkraftete es nicht länger, „für jedes Graffito persönlich verantwortlich gemacht“ zu werden.

Der Bürgermeister beging Selbstmord

Ende Januar erschien ein Artikel in der Provinzzeitung, der Bürgermeister Faudrys Referendum mit dem von Hitler verglich. Ein paar Tage später nahm sich Faudry das Leben. Sein Motiv bleibt möglicherweise für immer ein Geheimnis. Der 63jährige Junggeselle hatte sich in seiner Jagdhütte auf den Tisch gelegt, den Kopf auf ein Kissen gebettet und sich eine 6,35-mm-Kugel in die linke Brust geschossen. In zwei Abschiedsbriefen entschuldigte er sich und bestimmte, wer seinen Esel und seine Kanarienvögel bekommen sollte. Über den übrigen Inhalt wird in Chatainais spekuliert. Die Briefe liegen bei den Justizbehörden unter Verschluß.

„Er stand unter einem unerträglichen Druck“, sagen die Leute in Chatainais, wo sich Gegner und Befürworter schon vor der Beerdigung die Verantwortung für den Selbstmord zuschoben. „Die sogenannten Umweltschützer haben Faudry zu Tode gequält“ – heißt es auf der einen und „Faudray ist das erste Opfer des Endlagers“ auf der anderen Seite.

„Seid ihr nun zufrieden?“ fragte ein anonymer Anrufer bei Umweltschützern an. Im Dorf zeigt man jetzt mit dem Finger aufeinander. Kaum jemand traut sich noch, mit Fremden zu reden. Die ganz Alten fühlen sich ein wenig an die Atmosphäre nach Kriegsende erinnert, als ehemalige Résistance- Kämpfer und Kollaborateure ihre Rechnungen beglichen.

Vor der Beerdigung forderte der amtierende Bürgermeister die Gegner „im Namen der Familie des Toten“ auf, zu Hause zu bleiben. Mehr Polizei, als Chatainais je erlebt hat, sichert die Trauerfeier für den Dorfbürgermeister, die zum Staatsakt gerät. Alle Provinznotablen und selbst René Monory, der zweite Mann in Frankreich, der das Projekt für den Süden seines Departements eingefädelt hatte, finden sich in der romanischen Kirche und auf dem grasbewachsenen Vorplatz vor dem Rathaus ein.

Der einsame Tod des Bürgermeisters, der sich nie um Forschungslabor und Endlager beworben hatte, ist Hauptthema in der Region. Einige Nachbargemeinden überlegen, ob nicht auch sie eine Volksbefragung durchführen sollen. In Chatainais ist Faudry wenige Tage nach seinem Tod bereits zum Märtyrer geworden. „Jetzt wollen wir das Labor erst recht – schon seinem Andenken zuliebe“, sagen die einen. „Nach diesem Schock kommt das Endlager nicht mehr hierher“, hoffen die anderen.

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