: „Wir sind keine Lüge“
Ein Dossier der liberalen Zürcher „Weltwoche“ über den Balkankrieg und die westlichen Medien entpuppt sich als billiges Machwerk und provoziert ein Rauschen im Blätterwald ■ Von Thomas Schmid
Täglich demonstrierten letzte Woche in Zürich über 40 bosnische Flüchtlinge. Sie forderten weder politisches Asyl noch Bleiberecht und auch nicht das Ende der Belagerung Sarajevos, sondern nur ein bißchen mehr Wahrheit. Jeden Morgen fanden sie sich vor dem Redaktionsgebäude der Weltwoche ein. Ihre Forderung: Veröffentlichung einer Gegendarstellung. Die hatten sie nicht selbst geschrieben, sondern 14 Redakteure und Balkankorrespondenten verschiedener Schweizer Zeitungen und auch des Rundfunks und Fernsehens.
Was war geschehen? Die Weltwoche, Aushängeschild der liberalen Schweizer Presse und ansonsten bekannt für seriösen Journalismus, flotte Reportage und profunde Analyse, hatte in prominenter Aufmachung unter dem Titel „So logen Fernsehen und Presse uns an“ ein vierseitiges Dossier veröffentlicht. In der Dachzeile heißt es zusammenfassend: „Verdrehung der Tatsachen, mangelnde Sorgfalt, einseitige Kommentierung – im Balkan hat der Journalismus versagt“. Treffender ließe sich der Artikel selbst nicht kommentieren. Statt das Elaborat wenigstens ein bißchen auf seinen Wahrheitsgehalt hin abzuklopfen, hat es die Weltwoche offenbar völlig unbesehen nachgedruckt.
Daß es sich um einen Nachdruck handelt, verschweigt im übrigen die in Zürich erscheinende Zeitung ihren Lesern. Der Text ist bereits im vergangenen Dezember in der amerikanischen Zeitschrift Foreign Policy erschienen und wurde an die bei der UNO in Genf akkreditierten Journalisten schon vor seiner Veröffentlichung in der Schweiz verteilt – von der serbischen Delegation. Der Autor, Peter Brock, Kolumnist der in einer texanischen Kleinstadt erscheinenden El Paso Herald Post (Auflage: 27.000), kommentiert seit zwei Jahren in der Belgrader Politika und in „Radio Belgrad“ immer wieder das politische Geschehen auf dem Balkan. Da beide Medien umstandslos dem Regime des serbischen Präsidenten Milošević verpflichtet sind, ist also zumindest Vorsicht geboten.
Die westlichen Journalisten, so das Fazit Brocks, hätten sich zunächst vor den kroatischen, dann vor den bosnischen Karren spannen lassen und seien so selbst zur kriegführenden Partei geworden. Die antiserbische Grundhaltung sei mit einer systematischen, falschen Wahrnehmung der Realität einhergegangen. Nun hat es auch in der Berichterstattung über den Krieg auf dem Balkan gewiß immer wieder Schnellschußreporter gegeben, die Gerüchte für Wahrheit verkauft oder schlampig recherchiert haben. Doch Brock geht weiter. Er bezichtigt die westlichen Medien, systematisch falsch und einseitig zu berichten. Seine Behauptungen stützt er in aller Regel auf „Reporter“ und „Belgrader Korrespondenten“, die sich beklagt hätten, daß ihre Redaktionen ihre Texte unterdrücken oder verfälschen, und auf „UNO-Beamte“, die irgendwelche Vertraulichkeiten auspacken. Gemeinsam ist diesen Informanten, daß sie in aller Regel anonym bleiben.
Der „Knüller“ und die „Vergewaltigungsstory“
Doch mitunter wird Brock auch konkret und nennt Leute bei ihrem Namen. Das hat den Vorteil, daß sich dann meistens nachweisen läßt, wie schlampig der Autor gearbeitet hat. So stellt er die Existenz von Todeslagern, über die als erster der Pulitzerpreis-gekrönte Newsday-Reporter Roy Gutman berichtet hatte, schlicht in Frage und bezieht sich dabei vor allem auf Aussagen von Joan Philips. Die britische Journalistin hat sich dadurch einen Namen gemacht, daß sie eine serbische Propagandaausstellung über angebliche oder reelle kroatische Greuel an serbischen Zivilisten nach England gebracht hat. Gutman, so Brock, habe seinen „Knüller“ vom August 1992 auf Aussagen von Überlebenden von Manjaca und Trnopolje abgestützt. Hätte Brock aufmerksamer gelesen, so hätte er festgestellt, daß es sich um Überlebende von Omarska und Brcko Luka handelte. Daß dort massenhaft Gefangene zu Tode gefoltert oder direkt getötet wurden, ist von unabhängigen Menschenrechtsorganisationen sorgfältig dokumentiert worden. Zwangsläufig stützen sich die Behauptungen auf zahlreiche übereinstimmende Aussagen Überlebender, da neutrale Beobachter bei der Tötung nicht zugelassen waren. Im Dokumentarfilm „Opfer des Krieges – Omarska, das Todeslager“ von Monika Gras werden die überlebenden Zeugen wie die Toten mit Namen und Vornamen erwähnt. Gutman, dessen Artikel zum Teil auch in der taz erschienen sind, weist in seiner Entgegnung an Foreign Policy Brock noch ein halbes Dutzend weiterer unwahrer Behauptungen nach.
Auch Brocks Behauptung, daß „die bosnischen Serben bei internationalen Inspektionen ihrer Lager ungewöhnlich kooperativ waren“, ist eine dreiste Lüge. Selbst der UNO-Menschenrechtsbeauftragte Mazowiecki hat am 24. August 1992 ausführlich geschildert, wie ihm – nach langer Hinhaltetaktik – der Zugang zum serbischen Internierungslager in Maniaca schließlich verweigert wurde. Kein Einzelfall. Im Gegenteil, lange die Normalität.
Fast nebenbei erfährt man bei Brock, daß das Massaker vom 27. Mai 1992, bei dem in der Innenstadt von Sarajevo 22 Menschen, die vor einer Bäckerei Schlange standen, getötet wurden, von Muslimen begangen wurde. Quelle: „einige UNO-Mitarbeiter“. Tom Gjelten, Korrespondent des amerikanischen „National Public Radio“, hat in The New Republic vom 20. Dezember 1993 die von der Politika und hierzulande auch von der Hamburger Konkret wiedergegebene These, es habe sich gar nicht um einen Granateneinschlag gehandelt, ausführlich diskutiert und widerlegt.
Was die Massenvergewaltigungen vor allem muslimischer Mädchen und Frauen betrifft, nimmt Brock Untersuchungen unabhängiger Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international und die Gesellschaft für bedrohte Völker schon gar nicht zur Kenntnis, zitiert aus einem Bericht des französischen Journalisten Jerome Bony, der von 4.000 vergewaltigten Frauen auf dem Mittelschulgelände in Tuzla erfahren, dort aber dann nur vier aussagewillige Opfer angetroffen hat und reduziert das Massenverbrechen auf eine „Vergewaltigungsstory“.
Präziser wird Brock, wenn es um die Vergewaltigung serbischer Frauen durch Muslime geht. Da werden Daten und Orte genannt. Es ist durchaus möglich, daß die Fälle gut recherchiert sind. Angesichts der generellen Schlampigkeit der Recherche bedarf es allemal einer Überprüfung. Doch die Message Brocks ist durchsichtig: Vergewaltigung gibt es auf allen Seiten. Als ob dies jemand je ernsthaft bestritten hätte. Auch „ethnische Säuberung“ gibt es in diesem Krieg inzwischen auf allen Seiten. Doch kann daraus nicht – wie Brock offenbar meint – geschlossen werden, daß es sich eben schlicht um einen Bürgerkrieg handelt, an dem alle gleichermaßen schuld seien.
Wenn Opfer und Täter gleichgesetzt werden
Aus der Perspektive des vergewaltigten Opfers, aus der Perspektive des getöteten Soldaten mag die Unterscheidung unwichtig sein. Wer aber den Krieg in seiner Dynamik verstehen will und nach ernsthaften Lösungen für seine Beendigung sucht, muß auch seine Genesis und die Zielsetzungen, die ihm zugrunde liegen, in Betracht ziehen. Und es handelt sich zweifellos um einen Aggressionskrieg, in dem die serbische Seite mit Hilfe der jugoslawischen Armee über die Hälfte Bosnien-Herzegowinas besetzt hat. Daß auch die kroatische Seite viel Schuld auf sich geladen hat, daß auch bosnische Truppen Kriegsverbrechen begangen haben, darf nicht zur Gleichsetzung von Angreifern und Angegriffenen, von Tätern und Opfern führen. Man wird ja auch nicht die nationalsozialistische Eroberungs- und Vertreibungspolitik in Mittelosteuropa mit ihren Folgen, den Massenvertreibungen von Sudetendeutschen und Schlesiern nach dem Krieg, gleichsetzen wollen. Oder wie der Zürcher Ethnopsychoanalytiker Paul Parin einmal sarkastisch anmerkte: Man kann natürlich auch die Vernichtung der deutschen Juden als Bürgerkrieg begreifen, in dem deutsche Nazis deutsche Juden umbrachten.
Just diese Logik liegt dem Machwerk Brocks unübersehbar zugrunde. Die Demonstranten vor dem Redaktionsgebäude der Zürcher Weltwoche, viele von ihnen Überlebende serbischer Internierungslager, halten ihr – vielleicht hilflos – ihre Wahrheit entgegen. „Wir sind keine Lüge“, heißt es auf ihren Plakaten. Ihrer Forderung nach Veröffentlichung der Gegendarstellung von 14 Schweizer Journalisten will die Weltwoche vorerst nicht nachkommen. Der Streit in der Schweizer Presse wird also weitergehen – und auch nach Deutschland kommen. Das Hamburger Magazin Konkret hat bereits die Rechte an der Veröffentlichung von Brocks Text gekauft. In sein Weltbild wird er allemal passen, hatte doch sein Herausgeber Hermann Gremliza bereits nach dem Krieg der jugoserbischen Armee gegen Kroatien im August 1991 Karl Kraus' ironisches Diktum von „Serbien muß sterbien“ aufgegriffen. Daß es auch der Epigone des österreichischen Satirikers ironisch meint, braucht nicht extra vermerkt zu werden.
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