: Das Narrenschiff
„Rejs“ (Der Ausflug) — eine Allegorie auf den Sozialismus ■ Von Christian Semler
Damals, zu Zeiten der „kleinen Stabilisierung“ Polens, bevor der Industrieboom der frühen 70er Jahre die Flüsse und Seen der Volksrepublik vergiftete, diente der Unterlauf der Weichsel noch dem Vergnügen der Werktätigen. Nicht nur ein Plumps ins Wasser ohne schwerwiegende allergische Folgen, sogar mehrtägige Erholungsreisen waren möglich. Raddampfer transportierten die Urlauber von der Ostseemündung bis zu den Sandbänken des alten, von den Malern so sehr geliebten Kazimierz, südlich von Warschau — und umgekehrt. Das Urlaubsschiff als Allegorie auf den realen Sozialismus — Marek Piwowski bedurfte keines philosophischen „Apparats“ (wie Istvan Szabo in seiner kompliziert verschlüsselten Budapester Strassenbahn-Geschichte, die ungefähr zur gleichen Zeit entstand), um von dieser Idee Gebrauch zu machen. Sie schwamm platt auf der Weichsel.
Daß aus „Rejs“ (Der Ausflug) nicht ein ebenso platter Film wurde, verdankt sich der Unverschämtheit und dem Witz des Autors ebenso wie den Zeitumständen, auf die er reagierte.
1968 war ein Katastrophenjahr für den Sozialismus in Polen, auch für dessen aufklärererische, „revisionistische“ Variante. Zuerst wurden die revoltierenden linken Studenten niedergeknüppelt bzw. ihre Aktivisten eingesackt. Dann rollte eine beipiellose antisemitische Kampagne, in deren Verlauf der Großteil der polnisch-jüdischen Intelligenz, die den Holocaust überlebt hatte, in die Emigration gezwungen wurde. Auch die Filmhochschule Lodz, an der u.a. Andrzej Wajda unterrichtet und die Piwowski 1967 absolviert hatte, geriet ins Feuer der losgelassenen Nationalisten. „Rejs“ wurde sofort verboten und nach fast 2 Jahren, um 20 Filmminuten gekürzt, schließlich 1970 freigegeben. Die verstümmelte Fassung avancierte in der studentischen Subkultur Polens für die Dauer von 20 Jahren zum Kultfilm und — nach der „Wende“ von 1989 — zum Klassiker der politischen Satire. Da die Orginalfassung sich als nicht mehr rekonstruierbar erwies, wird auch auf den diesjährgen Berliner Filmfestspielen nur die 70 Minuten- Fassung gezeigt.
Zwei jugendliche Tunichtgute erschleichen sich einen Platz auf einem der — oben erwähnten — Weichsel-Ausflugsschiffe und werden umstandslos zu Kultur-Betreuern ernannt. Der initiativreichere von beiden, ein hühnenhafter Muskelprotz, beruft sofort eine Sitzung des Passagier-Kollektivs ein, in deren stumpfsinnig-routiniertem Verlauf die Wahl eines Dampfer-Kuturrats beschlossen und in die Tat umgesetzt wird. Wie die kollektive, dem Dampferkapitän zugedachte Kulturveranstaltung inszenieren? Wie die Gymnastik als Ausdruck unmittelbarer zum Gesang als vermittelter Natur in Beziehung setzen? Der Muskelprotz, der von all dem keine Ahnung hat, erweist sich nichtsdestoweniger als Meister rabulistischer Dialektik. Den Zweistropher eines todtraurigen Passagiers deutet er in eine Persiflage auf den bürgerlichen Pessimismus um, mithin als Ausdruck proletarisch-kollektiver Lebensfreude.
Parallel zu den von ästhetischen Grundsatzdebatten immer wieder unterbrochenen Gesangsproben wird das Gymnastikprogramm einstudiert. Erbarmungslos werden die des Turnens gänzlich unkundigen Urlauber zu immer schmerzhafteren, immer komplizierteren lebendigen Gesamtkunstwerken zwangsvereinigt. In der nächtlichen Schlußapotheose sieht man den festlich illuminierten Dampfer seinem lichten Ziel zustreben.
Die Pointe von Piwowskis Lehrstück besteht darin, daß der reale Sozialismus, wiewohl ursprünglich sowjetisches Importprodukt, auf perverse Weise den Bedürfnissen „der Massen“ entgegenkommt, seine Rituale und Praktiken, einschließlich der Denunziation, keineswegs nur unter Zwang nachvollzogen werden. Diese deprimierende Schlußfolgerung ist umso zwingender, als während des Films „der Sozialismus“ kein einziges Mal thematisiert wird, sondern nur die allseits reduzierten Persönlichkeiten, die ihn verwirklichen. Sinnentleerte Höflichkeitsformen, der Wechsel zwischen stumpfem Schweigen und kurzlebigen Wutausbrüchen, hingeworfene Satzbrocken und plötzlich hereinbrechende Suada — ein konzentriertes Alltags-Pandämonium. Piwowski ist jeder intellektuelle Hochmut fern. In seinem komischen Schreckensensemble nimmt nicht nur das Proletariat Platz sondern der subtile, weltabgewandte Dichter ebenso wie der knöcherne Kunsttheoretiker, der schon im Äußeren an Georg Lukács gemahnt. Sie alle produzieren, der eingebildeten Pflicht wie der Neigung folgend, jenen konzentrierten Schwachsinn, auf dem erst das Werk der Staatslenker erblühen kann.
Marek Piwowski waren sind die Zeitläufte seit „Rejs“ nicht günstig.
Nach einigen vielbeachteten Arbeiten als Dokumentarist versuchte er sich als Schauspieler, ging dann in die USA und Kanada, lehrte an der Fimakademie Chikago, ohne die Chance zu weiteren Arbeiten. Erst vor kurzer Zeit nach Polen zurückgekehrt, drehte er „Uprawadzenie Agaty“ (Agathes Entführung), der das Solidarnosc-Establishment schockierte, aber 1993 auf dem Filmfestival von Gdingen Beachtung fand.
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