piwik no script img

Liebe unter Stalin

■ „Els de davant“ im Wettbewerb

Sage niemand, auf Festivals wie diesem würden keine neuen Blickwinkel geboten. Wenn ein katalanisches Team den in Georgien angesiedelten Roman eines französisch schreibenden Autors, Georges Simenon, verfilmt, macht das irgendwie neugierig. Wenn Ben Gazzara, der Mann mit dem ausgeprägten Faible für bizarre Rollen, mitwirkt, erst recht.

In den dreißiger Jahren übernimmt der türkische Diplomat Adil Zeki das Konsulat im georgischen Batum. Er spricht kein russisch; in fremder Umgebung ganz auf sich gestellt, ist er vollends auf die Hilfe der ihm zugeteilten Sekretärin Sonja angewiesen, einer zartgrauen Jungkommunistin, die ihre Ideale mit gleichsam religiöser Inbrunst vertritt.

Während seine Amtskollegen in ihrer Enklave kapitalistischer Verworfenheit ein möglichst angenehmes Leben führen, sieht sich Zeki recht bald mit dem stalinistischen Repressionsapparat konfrontiert. Man macht gar keinen Hehl daraus, daß seine ausländischen Schallplatten erst einmal übersetzt werden müssen, ehe sie ausgehändigt werden. Schlimmer noch, Zekis Tätigkeit wird überschattet vom mysteriösen Tod seines Vorgängers. Auch sein Befinden verschlechtert sich zusehends ohne erkennbaren Grund; voller Mißtrauen vermutet Zeki einen Giftmischer in seiner unmittelbaren Umgebung.

Das unbestimmte Gefühl permanenter Bedrohung belastet sein inzwischen sexuelles Verhältnis zu Sonja. Handelt sie als kühl berechnende Spionin, aus wirtschaftlicher Not oder als aufrichtig Liebende? Mit Zeki bleibt auch das Publikum lange im Ungewissen; der Film schafft eine beklemmende Atmosphäre der Vagheit, bleibt bewußt in der Schwebe und wirkt um so eindringlicher. Der politische Hintergrund des Geschehens dient, typisch für Georges Simenon, nur als Folie für eine Studie über das menschliche Verhalten in absonderlichen Situationen. Gegen Ende muß sich Zeki Mitschuld am Tod eines Menschen vorwerfen lassen, muß sein Tun in Frage stellen und die Unmöglichkeit einer aufrichtigen Liebesbeziehung akzeptieren. Ob die Tragödie abwendbar gewesen wäre, ist eine Frage, die der Betrachter mit auf den Heimweg nimmt. Harald Keller

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen