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Unendliches Fallen der Würfel

■ Vollendet: Alain Resnais vereint in zwei Filmen — „Smoking“ & „No Smoking“ — sechzehn gleich wahrscheinliche Ausgänge einer Grundsituation (Wettbewerb)

Als die stilbildenden Regisseure der Nouvelle Vague Ende der 50er die Kamera aus den statischen Verankerungen des Studios rissen, um zur Natürlichkeit des Alltags vorzudringen, ging Alain Resnais genau auf Gegenkurs. Streng an der Serialität und der Künstlichkeit der barocken Kunst orientiert, schuf er in „Letztes Jahr in Marienbad“ eine Art „mentales Studio“. Darin geht es um die Suche nach der Wahrheit der Einnerung an eine Begegnung – mit einer beziehungsweise der Frau: Im letzten Jahr, in Marienbad. Oder war es in Friedrichsbad? Oder in Karlsbad? Die Bemühungen des Helden in „Marienbad“, die im Strom des Beliebigen verschüttete Wahrheit zu einer verbindlichen Geste zu verdichten, produzieren ein Spiegelkabinett aus Wiederholungen und Variationen, eine ewige Wiederkunft des Immergleichen. Prosaisch gesprochen: eine Beziehungskiste. „Letztes Jahr in Marienbad“ ist das Waterloo der Filmkritik.

Resnais' jüngste Zelluloidkomposition, der Zwillingsfilm „Smoking“ & „No Smoking“, ist die komplementäre Ergänzung zu dem 1961 gedrehten Frühwerk „Marienbad“. Ging es damals um die ausweglose, traumartig und traumatische Verschmelzung von Raum und Zeit zu einem gefängnisartig statischen Szenario eisiger Pracht – die Fesseln einer Obsession –, so demonstriert der Doppelfilm „Smoking“ & „No Smoking“ nun im Gegenteil die totale Zersplitterung der Biographie seiner neun Protagonisten. Nach dem Motto: Anything goes.

Im herrschaftlichen Schloßambiente zu „Marienbad“ stand die zur Erhabenheit verklärte Erinnerung an ein Rendezvous im (fiktiven) Zentrum, um das herum sich alles organisiert. Und in Resnais' Nikotin-Duofilm ist umgekehrt eine denkbar banale Alltagsentscheidung der analoge Schnittpunkt, von dem aus sich alles verzweigt. Celia Teasdale, die Frau eines Schuldirektors in Hutton Buscel, einer Kleinstadt in Yorkshire, tritt auf die Terrasse und hebt eine Schachtel Zigaretten (John Players Navy Cut) auf. Diese Szene ist in beiden Filmen gleich.

Aber die im Grunde belanglose Entscheidung, der Schachtel eine Zigarette zu entnehmen, sie zu rauchen oder sie nicht zu rauchen, schafft in den beiden Filmen eine gänzlich andere Grundvoraussetzung, der jeweils eine Kette vollkommen verschiedener Ereignisse folgt. In „No Smoking“ läßt Celia die Schachtel liegen und geht statt dessen zum Geräteschuppen. Deswegen überhört sie die Türklingel, und der bestellte Gärtner betritt nicht die Szene. In „Smoking“ jedoch hat sie diese Zigarette geraucht, kann deshalb die Tür öffnen, und der Gärtner betritt nicht nur die Szene, sondern ihr Leben.

Die frustrierte Ehefrau des Schuldirektors ist nämlich den Alkoholismus und den Zynismus ihres Mannes leid. Der viril-pragmatische Gärtner macht ihr im Lauf eines harmlos beginnenden Gesprächs verführerische Versprechungen, die die Frau bewegen, ihr Leben zu ändern. Sie trennt sich von ihrem Mann, eröffnet mit dem Gärtner eine Art Catering-Service, erfährt schließlich, daß der Gärtner ein träumerisch-verantwortungsloser Hochstapler ist, und verfällt dem Wahnsinn.

Aber nicht in jedem Fall. Der Film spielt mit dem hinlänglich bekannten Gedanken: Was wäre, wenn... In allen Filmem Resnais' spielt daher die zeitliche Abfolge eine zentrale Rolle. Der Zwillingsfilm ist in Handlungsintervalle gestaffelt: Fünf Minuten später, fünf Tage, fünf Wochen und am Ende fünf Jahre später trifft man sich jeweils wieder, wie in einem Ereignisfokus. Ist ein möglicher Handlungsstrang durchgespielt, so dreht Resnais die Zeit wieder zurück. Es geht um die entscheidenden Momente des Lebens, von denen wir jedoch im voraus niemals wissen, daß sie entscheidend sein werden. Kein moralischer Appell wider die Nikotinsucht, nur eine ganz banale Entscheidung: Soll sie jetzt rauchen oder nicht rauchen; zusagen oder absagen, soll er sich entschuldigen oder nicht entschuldigen. Resnais zeigt uns: Die Würfel sind nicht gefallen.

„Smoking“ & „No Smoking“ vereinen auf diese Weise sechzehn gleich wahrscheinliche Ausgänge einer Grundsituation in einer zeitlichen Parallelität. Doch am Ende steht alles nebeneinander in einem erzählerischen Paralleluniversum. So ist Sylvie Bell, das Dienstmädchen der Teasdales, einmal eine glücklich schwangere Mutter, ein andermal eine radikale Feministin. Miles Coombes, der beste Freund des trinkenden Schuldirektors, stürzt einmal von einer Klippe; ein andermal spielt er überhaupt keine Rolle.

Das eigentliche Kapital von „Smoking“ & „No Smoking“ sind die Dialoge, die auf acht miteinander verkoppelten Theaterstücken des englischen Boulevard-Dramatikers Alan Ayckbourn basieren. Ayckbourns unterkühlter, englisch-reservierter Wortwitz ist scharf wie Piranhazähne. Von Resnais inszeniert, wirkt das Ganze wie eine strukturalistische Version von Monthy Python's Flying Circus, Liebe, Leben, Leidenschaft als Spielfiguren eines simultanen Brettspiels.

Das ist Resnais' Filmkunst in höchster Vollendung. Was Greenaway nur verspricht – Resnais hält es. Manfred Riepe

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