: Wo ist der Atommüll aus Pierrelatte?
■ Strahlender Schrott aus französischer Fabrik verschwunden
Paris (taz) – Spurlos verschwundener Atommüll, gefälschte Zertifikate, eine schlafende Kontrollbehörde – aus der Dekontaminierungsfabrik in Pierrelatte am Rhône-Ufer dringen alarmierende Nachrichten. Am Montag verfügte der zuständige Präfekt Bernard Coquet die vorläufige Schließung des Etablissements. Das Unternehmen „Radiacontrôle“ habe sich „nicht an die Vorschriften“ gehalten, erklärte er vorsichtig, nachdem er den Untersuchungsbericht über die Zustände in Pierrelatte gelesen hatte.
Als besonders schwerwiegend wertete er, daß die Fabrik, die als „Umweltschutzeinrichtung“ klassifiziert ist, die Behörden nicht über die erhöhte Strahlenbelastung auf ihrem Gelände informiert und radioaktive Abfälle entgegengenommen habe, für die sie nicht geeignet sei.
Über das Ausmaß der Verseuchungen und Veruntreuungen bei Radiacontrôle, kleckern täglich neue Informationen an die Öffentlichkeit, seit vor zwei Monaten ein Anwohner den Skandal ins Rollen brachte. Pierre Dumas beobachtete damals von seiner Autowerkstatt aus, wie vollkommen in Weiß gekleidete Personen das benachbarte Gelände der Radiacontrôle mit seltsamen Geräten abtasteten. Der Mann verständigte sofort Polizei und Feuerwehr.
Heute weiß man ein bißchen mehr. Zum Beispiel hat der offizielle Untersuchungsbericht zutage gebracht, daß die Strahlenbelastung außerhalb des Fabrikgebäudes zehnmal über der gesetzlich zugelassenen Obergrenze von 0,5 rem pro Jahr liegt. Unklar ist, woher diese Strahlung stammt. Die Behörden schließen nicht aus, daß Atommüll unter freiem Himmel gelagert wurde. Einen Monat lang forschte die Untersuchungskommission in ganz Frankreich nach dem Verbleib von 92 Fässern Schrott und Blei aus dem französischen Nuklearforschungszentrum CENG in Grenoble, die nach Pierrelatte geliefert worden waren. Bislang konnte jedoch nur die Spur von 28 Fässern rekonstruiert werden: Sie wurden an Schrotthändler verkauft. Der Präfekt bezweifelt jedoch, daß sie vor dem Verkauf dekontaminiert wurden. Die Dekontaminierungszertifikate werden derzeit wegen des Verdachts der Fälschung untersucht. Unklar ist auch, warum die zuständigen Kontrollbehörden nicht schon lange vorher hellhörig geworden waren. Schließlich hatte die Dekontaminierungsfabrik seit ihrer Gründung keinen einzigen der alljährlich vorgeschriebenen Zwischenberichte geliefert.
Die Fabrik zur Dekontaminierung leicht radioaktiven Mülls war 1989 auf einem Gelände eröffnet worden, wo sich auch das AKW Tricastin sowie zivile und militärische Urananreicherungsanlagen und Einrichtungen zur Brennstoffherstellung befinden. Erst kürzlich wechselte der Eigentümer. Sie gehört jetzt dem französischen Baulöwen „Campenon Bernard“, der auch federführend am Bau eines neuen Sarkophags für den zerstörten Reaktor von Tschernobyl beteiligt ist. Dorothea Hahn
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