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„Die Subjektseite der Geschichte sehen“

■ 1994 ist für Hamburgs Geschichtswerkstätten ein wichtiges Jahr: Diverse Stadtteil-Jubiläen, verstärkte strukturelle Zusammenarbeit, aber auch eine ungewisse Zukunft beschäftigen die „Barfußhistoriker“ Von Simone Ohliger

Noch mit 79 Jahren zog die gebrechliche und fast blinde Eimsbüttlerin Flora Vogel 1939 in die Sedanstraße, Nähe Grindel. Vier Jahre später bekam sie den Deportationsbefehl nach Theresienstadt in ihren neuen Wohnsitz, das damalige Altenhaus der Deutsch-Israelischen Gemeinde geschickt. Die inzwischen 83jährige überlebte den Transport nur um wenige Wochen.

Allein in Eimsbüttel wurden während des deutschen Faschismus 400 bis 450 Menschen jüdischen Glaubens von den Nazis deportiert und ermordet. Insgesamt waren ein Drittel der Eimsbüttler Bevölkerung betroffen, etwa zwei Drittel konnten emigrieren. Ähnlich sehen die Zahlen in anderen Vierteln aus.

Wie sehr man die Geschichtsspuren des Holocaust vor Ort verdrängte und übertünchte, zeigt die Tatsache, daß bis vor wenigen Jahren so gut wie keine Erinnerungsarbeit an jene Menschen geleistet wurde, die das nationalsozialistische Hamburg demütigte, isolierte, schließlich deportierte und ermordete. Forschungsliteratur zur Judenverfolgung in der Hansestadt Hamburg gab es wenig. Um dem Verlust einer Kultur, die das Stadtbild einst entschieden mitgeprägt hatte, nicht allein mit Zahlen zu begegnen, begannen Mitarbeiterinnen der Geschichtswerkstatt Eimsbüttel, die seit 1984 in der „Galerie Morgenland“ besteht, Zeitzeugen zum Thema ,Juden im Stadtteil' zu befragen. Die älteren Bewohner des Viertels - Eimsbüttel galt als „roter Stadtteil“ -, erinnerten sich wohl an die Verfolgung von Sozialdemokraten und Kommunisten, doch eine „Ecke für Juden“, so hieß es zusammenfassend, sei der Stadtteil nicht gewesen. Nach fünf Jahren Beschäftigung mit dem Thema mußte die Arbeitsgruppe resümieren: „Die vielbetonte Solidarität im Arbeiterstadtteil schloß die Juden nicht mit ein“.

Nicht nur, um Schicksale wie das der Flora Vogel aufzuspüren und wieder in Erinnerung zu rufen, haben es sich die Geschichtswerkstätten zur Aufgabe gemacht, die historische sowie die Lebens-, und Wohnsituation des eigenen Stadtteils zu ergründen. Seit 1980 die erste Hamburger Geschichtswerkstatt in Ottensen entstand, fanden sich immer mehr engagierte Historiker, Pädagogen und politisch Interessierte zusammen, um der traditionellen mit Daten, Fakten und Heldenepen geschwängerten Geschichtsschreibung eine Geschichte „von unten“ entgegenzustellen.

Der ersten Geschichtswerkstätten in der Bundesrepublik entstanden aus den „neuen sozialen Bewegungen“ der späten 68er Jahre. Die Mitarbeiter machten es sich zur Aufgabe, unmittelbar und direkt zu arbeiten: Erst einmal hingucken und wahrnehmen statt gleich zu beurteilen und der Geschichte der vermeintlich großen Namen und wichtigen Daten eine der kleinen Leute und ihrer vermeintlich unerheblichen Alltagserfahrungen entgegensetzen. Die meisten Geschichtswerkstättler leben in eben dem Stadtviertel, in dem sie auch arbeiten. Aber sie erfahren nicht nur Lob und Aufmunterung, sie stellen sich auch der Kritik einiger akademisch orientierter Historiker, die den Geschichtswerkstättlern vorwerfen, ihre Methode, mündliche Quellen heranzuziehen, sei zu ungenau und ihrer Arbeitsweise fehle die nötige Objektivität. Doch die „Barfußhistoriker“ schließen die subjektive Seite der Geschichte bewußt mit ein, wobei es ihnen nicht darum geht, die traditionelle Geschichtsschreibung zu negieren, sondern sie zu ergänzen.

Die „Subjektseite der Geschichte“, nennt der Historiker Lutz Niehammer denn auch die Methode der „oral history“, die „in den Akten nicht auftaucht und in der Geschichtsschreibung zumeist unbewertet bleibt“, so Beate Meyer und Joachim Szodrzynski aus der Geschichtswerstatt Eimsbüttel. Die Wurzeln dieser Methode finden sich in den sechziger Jahren in England. Ausgangspunkt der “oral history“-Bewegung war ein alternativer, von Studenten organisierter Historiker-Workshop, der 1966 in Oxford stattfand. Auch die schwedische „Grabe, wo du stehst“-Bewegung, deren Ausgangspunkt in den Gewerkschaften lag, trug dazu bei, die analytische, lokal verwurzelte Aufarbeitung von Geschichte weiterhin bekannt zu machen. Über gewerkschaftliche und Volksbildungseinrichtungen verbreitete sich dieser Ansatz schließlich über ganz Europa.

Im Zuge der Nachkriegsplanungen,die in den 70er Jahren Flächensanierung, den Abriß von Wohnhäusern und den Neubau eines Autobahnzubringers vorsahen, formierte sich in Hamburg-Ottensen eine gegen die Neuplanungen aufbegehrende Bürgerinitiative, und 1980 entstand aus dem Engagement mehrerer Bewohner dasStadtteilarchiv Ottensen als die erste feste Geschichtswerkstatt, die zunächst von der Kulturbehörde durch Projektförderung unterstützt wurde. Sie ist auch heute noch in einer ehemaligen Drahtstifte-Fabrik untergebracht, deren historische Maschinen das Geschichtswerkstatt-Team zu Vorführzwecken wieder instandgesetzt hat.

Ab 1991 wurden die bis dahin entstandenen Geschichtswerkstätten von der Kulturbehörde in die institutionelle Förderung aufgenommen. Aus dem wachsenden Interesse für die eigene Umgebung und mit wachsender finanzieller Hilfe der Kulturbehörde - 1993 wurden allen Geschichtswerkstätten zusammen über eine Million Mark bereitgestellt - sind bis heute in Hamburg fünfzehn Geschichtswerstätten entstanden, die Jüngste unter ihnen ist das 1991 gegründete Jarrestadt-Archiv.

Der mit großem Elan begonnenen Arbeit mischt sich indes im Zuge der Haushalts-Ein-parungen für 1994 ein Unsicherheitsfaktorbei, weil für dieses Jahr die Mittel erstmals nicht erhöht wurden. Da der Haushalt für 1994 wegen der Neuwahlen frühestens im März verabschiedet wird, können außerdem zur Zeit noch keine längerfristigen Projekte geplant werden.

Nichtsdestotrotz läßt sich der Arbeitseifer und die Zuversicht der Geschichtswerkstättler nicht bremsen. Im letzten Jahr gaben sie gemeinsam mit der Kulturbehörde das Buch „Kiek mol“ heraus, „Stadtteilrundgänge, erarbeitet und aufgeschrieben von Hamburger Geschichtswerkstätten“. Das Buch dokumentiert eine Auswahl der für interessierte Stadtteilbewohner durchgeführten Rundgänge.

Ein literarischer Spaziergang auf den Spuren des 1921 in Eppendorf geborenen Dichters Wolfgang Borchert, eine Barkassenfahrt auf dem Osterbekkanal in Barmbek mit dem Thema: „Vom Wiesengrund zum Industriegürtel“ oder ein Spaziergang zur Frauengeschichte in Ottensen (“Die Bewegung der ,Geschichte von unten' versteht Geschichte ausdrücklich als die von zwei Geschlechtern und als Geschichte, die bisher unbeachtet blieb“), um nur wenige der etwa fünfzig beschriebenen Stadtteilrundgänge zu nennen.

Nicht nur zu den Rundgängen haben die Geschichtswerkstättler auch historische Bilder und Fotos vorgestellt. Zu Interviews mit Zeitzeugen – die jüdische Geschichte im Stadtteil nimmt dabei einen wichtigen Raum ein – bringen die Gesprächspartner häufig eine Menge alter Fotos mit. Diese zeitgeschichtlich wertvollen Dokumente wollen die Geschichtswerkstätten nun im Frühjahr dieses Jahres in einem sogenannten Bilderspeicher der Öffentlichkeit vorstellen. Mit dem neu gegründeten Fotoarchiv sollen die historischen, meist aus Privatbesitz stammenden Bilder auch kommerziell genutzt werden können. Verlage, Behörden, Forschungseinrichtungen oder Architekten werden dann reiches geschichtliches Fotomaterial zu Themen wie Stadtansichten, Bombenschäden, Hafen, Jugendbewegung, Familie, Schule oder Nationalsozialismus abrufen können.

Das Jahr 1994 ist noch in anderer Hinsicht nicht nur für die Hamburger Geschichtswerkstätten wichtig, denn es gibt über ein Dutzend Stadtteilgeburtstage zu feiern: Unter anderem wurden vor einhundert Jahren die ehemaligen Vororte Eppendorf, Eimsbüttel, Barmbek, Eilbek, Borgfelde, Hamm, Horn und Billwerder in den Stadtstaat Hamburg eingemeindet. Dieses Jubiläum möchte die 1986 entstandene Geschichtswerkstatt Barmbek nutzen, um das Projekt eines Heimatmuseums für Barmbek zu realisieren. Die neue Generation der Historiker setzt sich dabei auch mit dem Begriff Heimat auseinander, der für sie nicht etwas statisches darstellt, sondern etwas, „das erworben werden will, das Engagement fordert“. Die jetzt noch in einer ehemaligen Konditorei beherbergten Werkstättler wollen den Turmbunker am Wiesendamm entsprechend zu einem Museum „in progress“ umfunktionieren, das mit wechselnden Ausstellungen dem Werkstattcharakter ihrer bisherigen Arbeit entsprechen soll.

Auch das Eppendorfer Stadtteilarchiv macht schon durch das Gebäude, in dem es seit 1987 untergebracht ist, auf sich aufmerksam. Das Ende des 19. Jahrhunderts in der Martinistraße erbaute und jetzige „Bürgerhaus für Eppendorf“ bot in seinen Anfangszeiten „obdachlosen und sittlich gefährdeten Frauen und Mädchen“ Zuflucht und wurde ab 1935 als Polizeirevierwache genutzt. Hier präsentierte die Geschichtswerkstatt 1990 anläßlich der 850-Jahrfeier Eppendorfs ihre erste größere Ausstellung.

Das Stadtteilarchiv Eimsbüttel nimmt seine Eingemeindung vor hundert Jahren zum Anlaß, in einer Ausstellung im Hamburghaus am Doormansweg die Geschichte des Stadtteils zu dokumentieren und Rundgänge zum Thema anzubieten. Die engagierten Eimsbüttler haben schon einige Videofilme - „Nicht nur im Gleichschritt“ oder „Ich war rassisch halb“ - und Bücher produziert, die aus der intensiven Arbeit zur jüdischen Geschichte des Viertels entstanden sind. Das Buch „Wo Wurzeln waren... – Juden in Hamburg-Eimsbüttel 1933 bis 1945“ dokumentiert auch die Geschichte der Flora Vogel, an deren Ermordung durch die Nazis die Enkel und Enkelinnen auch heute noch mit Wut und Trauer zurückdenken. Die Familienmitglieder, die sich längst aus den Augen verloren hatten, haben sich vor einigen Jahren über die Arbeit der Geschichtswerkstatt wiedergetroffen und erstmals über die schweren Bedingungen ihrer Familiengeschichte während des zweiten Weltkriegs gesprochen.

Adressen:

Geschichtswerkstatt Barmbek, Wiesendamm 25, 22305 HH, Tel: 293107 - Galerie Morgenland, Sillemstr. 79, 20257 HH, Tel: 4904622 - Stadtteilarchiv Eppendorf, Martinistr. 40, Tel: 4804787 - Stadtteilarchiv Ottensen, Zeißstr. 28, 22765 HH, Tel: 3903666

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