: Venedig sehen und schlafen
■ Videokassetten erobern den Reiseführermarkt
Schieben wir die Videokassette des DuMont-Verlages in den Recorder und machen es uns vor der Glotze bequem. Venedig steht auf dem Programm. Der Rotwein aus dem Veneto ist gut gelüftet und steht in Reichweite. Ein paar venezianische Kekse hat Freund Heinz zum Video-Abend mitgebracht. Unser Venedig-Besuch liegt erst ein paar Wochen zurück. Jetzt sind wir gespannt, was wir alles in Venedig nicht gesehen haben.
Getragene Barockmusik kommt aus dem Lautsprecher. Die ersten bunten Bilder flimmern über den Bildschirm. Die sonore Stimme des Sprechers weckt Vertrauen. Wir sehen den Markusplatz, die Basilica und den Dogenpalast. Überrascht sind wir nicht. Wer würde nicht mit den touristischen Highlights beginnen? Ein paar Bilder vom carnevale. Masken und schöne Rokoko-Kostüme. Und dann geht es erst so richtig los. Ein Stadtbezirk nach dem anderen wird abgehakt: Castello, Dorsoduro, Cannaregio, San Polo. Jedesmal sind die Kirchen die Bezugspunkte. Wir wußten gar nicht, daß Venedig so viele Kirchen hat. Ruhige Kameraschwenks, sanfte Überblendungen und manchmal ein Weichzeichner. Und immer noch die getragene Barockmusik. Der Sprecher erzählt von Muselmanen, von den Österreichern und von Napoleon. Kreuz und quer springt er durch die lange Geschichte der Stadt. Hier ein Fitzelchen, dort ein Fitzelchen. Ein Zusammenhang entsteht nicht.
Freund Heinz greift immer öfter zum Glas mit dem Rotwein. Nebenbei blättert er in der Programmzeitschrift. Freund Heinz langweilt sich.
Das Video ist noch nicht zu Ende. Wir fahren auf die Friedhofsinsel San Michele und zum Lido. Hier drei Sätze zur Biennale, dem größten Filmfest der Welt. Und es geht weiter nach Murano, der Glasbläserinsel. Nach Burano, wo die Spitzenstickerinnen wohnen. Und auf die Insel Torcello, auf der die Geschichte Venedigs begann. Wir erfahren nicht, daß oft trübe, stinkende Fluten über den Markusplatz schwappen. Der Sprecher berichtet nicht, daß das ökologische System der Lagune durcheinandergeraten ist. Und er erzählt nichts vom touristischen Ausverkauf Venedigs. Die Stadt hat keine Gegenwart.
Freund Heinz atmet verdächtig gleichmäßig. Er hat Venedig sechzig lange Minuten auf dem DuMont-Video gesehen und ist eingeschlafen. M. Rosenow
DuMont Video-Reiseführer, Venedig, VHS/PAL, 60 Min., DM 48
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