■ Ökolumne
: Evolution statt Wachstum Von Frederic Vester

Jedes Wachstum eines lebenden Systems geht irgendwann in einen Gleichgewichtszustand über. Ein ständiges Wachstum ist in der Natur unbekannt. Nur unsere Wirtschaft glaubt an ein derartiges „Perpetuum mobile“. Die fatalen Konsequenzen eines solchen Irrglaubens beginnen aber mehr und mehr sichtbar zu werden. Wer sich vom Wachstum abhängig macht und den Übergang zu einer Gleichgewichtsphase nicht schafft, wird unweigerlich scheitern. Denn Wachstum kann Metamorphose und Evolution nicht ersetzen.

Das bekommen derzeit viele Unternehmen zu spüren, die sich, wie beispielsweise die Automobilindustrie, an einem bestimmten Produkt festgebissen haben und, weil es in der Vergangenheit so gut lief, partout damit weiterwachsen wollen. Sie produzieren im Grunde längst am MarktFoto: Ursula Zeidler

vorbei. Statt aber

umzudenken, sich rechtzeitig durch Innovation den veränderten Umständen und Bedürfnissen anzupassen, versuchen sie, einfach weiterzumarschieren. Frühwarnzeichen, die den Impuls zur Innovation, zur Metamorphose geben könnten, werden ignoriert, als störend ausgeschaltet. Man verringert die Diversität, konzentriert sich auf das gängige Produkt, und die noch existierende Flexibilität wird wegrationalisiert.

Sie aber ist das wichtigste Potential zur Anpassung und müßte gerade in Krisenzeiten als Unternehmensressource gepflegt werden. Statt dessen versucht man, fixiert auf die bestehenden Produkte, diese noch stärker in den Markt hineinzupuschen, ihre Stückzahlen zu erhöhen, die Herstellungskosten zu senken, Arbeitsplätze in Billiglohnländer zu verlagern. Wenn dann trotzdem die Pleite droht und Massenentlassungen bevorstehen, ruft man nach „Protektion“, nach Subventionen durch den Staat. Staatliche Hilfe aber zementiert die kranken Strukturen erst recht. Gesunde Unternehmen, die keine Subventionen erhalten, geraten in Nachteil. Sie und die arbeitende Bevölkerung müssen die gesamten Soziallasten tragen. Die Kaufkraft sinkt, und auch gesunde Unternehmen beginnen zu kriseln. Weit klüger wäre es, kranke Unternehmen dem Markt zu überlassen – eine Radikalkur, die sie vielleicht zur heilsamen Umstrukturierung zwingt, und die Hilfe dorthin zu lenken, wo zukunftsträchtige Innovationen sichtbar werden: regenerative Energieerzeugung wie Solar- und Windenergie, ökologische Landwirtschaft unter Nutzung organischer Abfälle und Biogasproduktion, Entwicklung umweltfreundlicher Verkehrsmittel, Einsatz von Fuzzy Logic und kybernetischen Planungsmethoden, Förderung kleinräumiger Siedlungsstrukturen, sinnvolle Abfallvermeidungstechniken und vieles andere. Damit würden den Arbeitsuchenden neue, diesmal zukunftssichere Jobs geboten. Das Ganze ergänzt durch eine kräftige Energie- und Treibstoffsteuer, die den tatsächlichen Belastungen entspricht, Umweltschäden und ihre katastrophalen Folgekosten senkt und gleichzeitig die menschliche Arbeitskraft wieder konkurrenzfähig macht.

Dagegen würde sich Deutschland bei Fortsetzung der derzeitigen Praxis vom technischen Weltniveau verabschieden. Eine Entwicklung, die einerseits durch Kurzsichtigkeit und Unvermögen unserer Entscheidungsträger und andererseits durch den Druck einer volkswirtschaftlich verantwortungslosen Lobby zustande kommt. Unsere Großindustrie, die sich fälschlicherweise als die deutsche Industrie aufspielt (aber nur 20 Prozent derselben repräsentiert, während die Klein- und Mittelbetriebe den Hauptteil des Steueraufkommens tragen und damit das Rückgrat sind), kassiert für technische Abenteuer wie ICE und Transrapid, für fragwürdige „Spitzentechnologien“ wie Atomenergie und Raumfahrt und für dubiose Waffenexporte oft mehr an Staatshilfe, als sie an Steuern aufbringt. Wenn wir brauchbare Zukunftsstrategien entwickeln wollen, so kommen wir nicht umhin, die Organisationsregeln lebendiger Systeme zu beachten, die einzige Art, nicht mit der uns alle tragenden Umwelt und ihren kostbaren Ressourcen wie Wasser, Boden und Luft auch die Basis jedes Wirtschaftens zu zerstören. Das Bewußtsein für vernetzte Zusammenhänge ist zwar gewachsen, nur bis zum politischen Handeln hat es bis heute kaum gereicht.

Frederic Vester erstellte im Auftrag von Ford eine Studie zur Zukunft der Autoindustrie: „Ausfahrt Zukunft“, München 1990