: Meine Zeit mit Marion
■ Viel Krankheit der Jugend: „A la belle Etoile“
Hat der Film ein trauriges oder ein glückliches Ende, fragt Regisseur Antoine Desrosières die Zuschauer nach der Vorführung. Bei einer Gegenstimme einigt man sich auf Happy-End. Desrosières scheint zufrieden. Dann meint jemand aus dem Publikum, er fände das Ende, ja den ganzen Film, ambivalent. Wieder stimmt der Macher nervös lachend zu.
Sprunghaft und aufgedreht, hektisch und schnell wie sein Regisseur, ist „A la belle Etoile“, der erste Langfilm des jungen Mannes, der schon über zwanzig Kurzfilme gedreht hat. Die Figuren, die unter den Sternen von Paris umherhasten, sind noch ein wenig jünger als er, so um die 17. Hauptakteur ist Thomas. Seine Fortbewegungsart ist nicht fahren oder laufen: das alles ist viel zu langsam. Thomas stolpert in Riesenschritten durch das nachts nur noch von diesen häßlichen Reklame-Buswartehäuschen erleuchtete Paris, er fällt aber nie richtig hin.
Wenn das Tempo einmal nicht reicht, hilft der Regisseur mit dem Zufall nach. Thomas und alle seine FreundInnen treffen sich nicht nur dauernd vor ihrer Schule; ganz Paris ist ihr privater Treffpunkt und Rummelplatz.
Als eine von Thomas' Freundinnen als Seiltänzerin anheuert, weil sie das Aktstehen satt hat (worauf sich der Kunstlehrer erhängt), spannen Thomas und sie ein Seil in ihrem Hinterhof. Er bindet ihr ein Tau um, daß sie beim Sturz halten soll. Als sie tatsächlich einmal danebentritt, wird er fast von ihrem Gegengewicht in die Tiefe gezogen. Einen Moment lang hängen beide in der Balance zwischen Himmel und Erde.
Um diesen Moment, den Schwebezustand zwischen Kindheit und Erwachsensein, geht es in „Blue Moon“. Weil dieses Gefühl immer mit der Angst seines Verlusts einhergeht, muß Thomas so schnell durch Paris rennen, daß die Kamera nur auf einem Motorrad hinterherkommt. Als einer aus der Schule vom Seil fällt, ohne im Netz zu landen, wundert sich niemand über dessen Selbstmord. Aus dem Totenkranz bastelt Thomas im Laufen einen Blumenstrauß mit persönlicher Buchstaben-Widmung für die Freundin.
Thomas wird zu Jacques Tati, als dieser einen Autoreifen zum Kranz umgestaltet. Noch am offenen Grab geht bei Tati natürlich die Luft raus.
Gleich vier Mädchen rauben Thomas den frischen Atem: Marion, ihre Freundin Rebecca, Claire, die mit Mathieu geht und schließlich Hannah, die in der letzten Einstellung Arm in Arm mit Thomas über die Pont Neuf schlendern darf, während wir den beiden von hinten sehnsüchtig nachschauen (ergo: Happy-End).
Zu Beginn des Film springt Thomas in die Seine, damit Marion ihn rettet. Sie hatte vorher ihren Freund zufällig beim Motorradunfall beobachtet und ihn, als er wie tot auf der Straße liegt, wachgeküßt. Thomas besitzt immerhin ein Pfand von seiner Prinzessin. Immer wieder stopft er sich das Halstuch, das sie verloren hat, in die Jackentasche und verfolgt Marion, damit sie es gegen eine Kuß eintauscht. Er traut sich aber nie, ihr wirklich das Tuch zu geben. So verwirklichen sich seine erotischen Phantasien mit Marion nur in der filmischen Negativform, als schwarzweiße Wunschträume.
Zu Zärtlichkeiten kommt es nach all der Rennerei erst, als Thomas mit zwei Frauen im Bett liegt. Liebe geht in der vorgeblichen Komödie nur zu dritt, wenn einer traurig, oder auch nicht, zuschaut. Nach der Zärtlichkeit folgt eine spielerische Variante des Aids- Themas: Am nächsten Morgen stolpert Thomas zum Testdoktor, der ihn nicht so richtig ernst nimmt. Draußen trifft er seine Freundin. „Was machst du denn hier? Ach, ich war gerade zufällig in der Gegend.“ Dann gehen sie getrennt aus dem Bild, er nach links, sie nach rechts. Nach Abholen der Ergebnisse wiederholt sich die Szene. Reden ist nicht unmöglich, es hat nur grad keiner Lust dazu. Es geht nicht mehr um die Liebe im Zeitalter von Aids, sondern um Aids im Zeitalter der Liebe.
Ein Film, der manchmal aus Unachtsamkeit, meist aber mit Bedacht vieles offen läßt. Vom Tempowahn getrieben, stehen die Protagonisten längst in der U-Bahn, während wir uns noch in Gedanken mit ihnen im warmen Bett rumwälzen. Dieser „Blue Moon“ wirkt wie die locker aus der Hüfte geschossene Antwort des französischen Regienachwuchses auf Resnais' charmantes Altherren- und -damenkino „Smoking & No Smoking“, das kaum einen Jugendlichen ins Kino ziehen dürfte. Andreas Becker
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