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So lange ist es eben

Die siebeneinhalb vielleicht wichtigesten Stunden des Festivals: Béla Tarrs „Satanstango“  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

„Sátántangó“, der nunmehr zehnte Film des düsteren ungarischen Meisterregisseurs Béla Tarr, ist siebeneinhalb Stunden, also – nicht ganz zufällig – einen Arbeitstag lang. Das mag zunächst abschreckend klingen, doch der durchgehend in einem verregneten Schwarz-weiß gehaltene Film, der buchstäblich in letzter Sekunde vor der Berlinale fertig wurde, ist sicher nicht das, was man gemeinhin unter einem schwierigen Film versteht. Er ist langsam, das ist alles, und wenn er, wie es immer so schön heißt, „Sehgewohnheiten“ durchbricht, so sind es lediglich Sehgewohnheiten zweiter Ordnung. „Sátántangó“ jedoch folgt dem Tempo des wirklichen Sehens, in dem ein langer Weg so lang ist, wie er eben lang ist.

In der ungarischen Tiefebene, wo alles waagerecht ist, halb verlassene Siedlungen unendlich weit voneinander entfernt liegen und ein grauer Himmel so tief hängt, daß er die Menschen zu erdrücken droht, regnet es fast ununterbrochen. Die Protagonisten leben auf einer stillgelegten landwirtschaftlichen Maschinenstation. Das Leben ist eine Krankheit zum Tode. In dumpfer Untätigkeit gehen die Tage vorbei. Alle versuchen einander zu betrügen. Nichts wird verwirklicht, die Protagonisten leiden an einer fatalen Unentschlossenheit und einem Mangel an Selbstbewußtsein. Alle wollen fliehen und warten auf den, der ihnen zur Flucht verhilft. Das könnte Irimiás sein, ein falscher Prophet, der früher mal hier wohnte und wiederkommt und ein bißchen so aussieht wie Django. Er verspricht ihnen am Sarg eines Kindes, das sich mit Rattengift umgebracht hat, Lohn und Brot und ein besseres Leben, wenn sie ihm ihr Erspartes geben. Doch auch der entschlossene Betrüger – der vielleicht ein Spitzel ist, suggestive Reden schwingt und in einer großartigen Szene mit seinem Gehilfen Petrina durch die engen Regenstraßen geht, ein starker Wind treibt die Dinge am Weg vor ihnen her – leidet an dieser seltsamen Unentschlossenheit.

Ein dicker Doktor (Peter Berling) sitzt an seinem Fenster und beobachtet das immergleiche Leben dort draußen und schreibt auf, was er sieht. Wer das ärmlich zusammengezimmerte Haus gegenüber verläßt oder betritt. Das Aufschreiben ist seine verzweifelte Form der Welt- und Selbstvergewisserung. Ununterbrochen trinkt er dabei aus einer riesigen Korbflasche, raucht und geht erst hinaus, wenn der Schnaps alle ist. Er trifft auf die kleine Estike mit den abstehenden Ohren, die später Katzen quälen wird, bevor sie sich umbringt. Auf einem Dachboden holt er seinen Schnaps bei zwei Huren. Auf dem Rückweg kippt er um, bleibt liegen und wird wie ein Stück Vieh am nächsten Morgen ins Krankenhaus gekarrt. Nicht nur sein Weg erinnert an die detailversessenen Beschreibungen von Dostojewski. Auch die falschen Propheten, die die Dorfbewohner verführen, ähneln denen, die der russische Dichter in den „Dämonen“ beschreibt. Sie sind zu Tode entschlossen, allein es fehlt ihnen die letzte Konsequenz.

Eine Kneipenszene ist von einer geradezu unglaublich großartigen Dissonanz und finsteren Verzweiflung. Wild wird hier getanzt und getrunken; über eine halbe Stunde lallt ein Betrunkener immer die gleichen Sätze, über Irimiás und Petrina, die er an einer Kreuzung getroffen habe, „und sie trotteten und sie trotteten“ (in ungarisch klingt das tausendmal besser). Das kleine Mädchen drückt ihre Nase an der Fensterscheibe zum Kneipenraum platt. Eine Frau wird sinnlos von ihrem Tänzer bedrängt, sinnlos wehrt sie ihn ab, sinnlos schlagen sich einige; betrunken liegt jemand auf einer Bank und streckt ab und an sein Bein aus, um die Tanzenden zu ärgern. Am Ende, als alle schon zu Tode betrunken sind, geht jemand aus dem Bild, und man hört, wie er sich übergibt. Am Ende des Films nagelt der Doktor das Fenster zu, vor dem er zu schreiben pflegte. Draußen ist niemand mehr.

In diesen siebeneinhalb Stunden, vielleicht die wichtigsten des Festivals, schweifen die eigenen Gedanken ab und sind zuweilen ganz woanders: man denkt an tote Freunde; irgendwo regt sich ein bißchen Haß auf die totale Ästhetik des Mainstream-Kinos; viertelstundenlang meditiert man „über“ eine trostlose Küche und vergißt alle Worte.

Gegen den Jahrmarkt des schnellen Schnitts, der erfahrungslos in der Wiederholung des Schlechten steckenbleibt, setzt Tarr eine Verzweiflung, die er in Arbeit und Kunst verwandelt. Seine Verzweiflung hat nichts Ansteckendes; es fehlt jede Spur eines depressiven Narzismus, der das Nichts der Welt zum Credo aufblasen möchte. Die Verzweiflung, die er schildert, ist kreatürlich. Er arbeitet das Leiden unter der Herrschaft der Zeit (jede Depression ist Leiden an der herrschenden Zeit) in Realzeit heraus. Symbole sind selten: manchmal das Ticken der Uhr, der unaufhörliche Regen, manchmal scheppern die Stimmen aggressiv.

„Wir schaffen noch Kunst, aber wir reden nicht mehr darüber. So erhaben ist es auch nicht“, sagt Lászlo Krasznhorkai, nach dessen Romanvorlage der Film entstanden ist, und „die Zusammenarbeit mit dem Film entstand aus meiner Verzweiflung. Diese Verzweiflung ist dieselbe, die Sie erleiden. Unsere einzige Aufgabe besteht darin, die Distanz zwischen dem Film und unserer Verzweiflung zu erhalten.“ „Wie leben wir und was merken wir überhaupt, wenn wir leben? Wann wird es wichtig, wie die Ecke dieses Tischs aussieht; aus welchem Material sie ist?“ fragt Béla Tarr. Eine Antwort weiß er nicht (er zeigt den Tisch).

Die Stimmung des genialen Regisseurs fand gerade auf der Berlinale ihren Widerhall. Mit bebender Stimme sagte eine amerikanische Zuschauerin, sie habe die meiste Zeit des Films geheult und flehte den Regisseur an, unbedingt weiter zu machen. „We need you.“ „Sátántangó“ wurde mit dem Caligari-Filmpreis ausgezeichnet.

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