: Welch eine Beliebigkeit
■ Betr.: „Beerdigungsreden und -kränze“, taz vom 17.1.94, Leser brief dazu von Hartmut von Hen tig, taz vom 31.1.94
In der „Normalzeit“ erhebt Helmut Höge Vorwürfe gegen den verstorbenen Hellmut Becker, der im Wilhelmstraßen-Prozeß zusammen mit dem heutigen Bundespräsidenten dessen Vater, den Staatssekretär des Außenministers Ribbentroo, Baron Ernst von Weizsäcker, verteidigt hatte. Am 31.1. erscheint ein Leserbrief Hartmut von Hentigs, der sich gegen die Darstellung Helmut Höges wendet. Seiner Meinung nach darf man aus rechtsstaatlichen Gründen einem Verteidiger seine Tätigkeit nicht vorwerfen und schon gar nicht seine Erfolge.
Der Erfolg heiligt die Mittel. Er bestand darin, dem Staatssekretär der Nazis mit einer auf Lügen und Ausreden aufgebauten Verteidigung zu einer milden Strafe verholfen zu haben (fünf Jahre) – und damit in der Folge noch einer Reihe weiterer Angeklagter.
Das scheint für von Hentig belanglos zu sein. In der Attitüde des distanzierten Gutachters bemerkt er sogar zur Tätigkeit des Ernst von Weizsäcker, man könne das „so oder so beurteilen“.
Schon für die Nachkriegszeit war es bezeichnend, daß der Wahrnehmung konkreter Verhaltensweisen profilierter Personen der Nazizeit ausgewichen wurde. So kam es auch nicht von ungefähr, daß Leute, die in die Machenschaften der Nazis involviert waren, in der BRD glänzende Karrieren machen konnten.
Später hatte auch Hellmut Becker, den Kempner zum „Freundeskreis der Kriegsverbrecher“ zählte, hervorragende Erfolge als Koryphäe im Bildungssektor. So begibt sich Hartmut von Hentig – zumindest durch Wegsehen – hier in eine Komplizenschaft, die wohl damit zu tun hat, daß er sich im bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb, u.a. in wiederholter Zusammenarbeit mit Becker, arrangiert hat. Aber auch das kann man so oder so beurteilen.
Welch eine Beliebigkeit. Paul Teschke
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