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„Wir müssen wachsam bleiben“

Frankreich will Atommacht bleiben und konventionelle Rüstung ausbauen / „Weißbuch“ nennt Einsatzmöglichkeiten in aller Welt / Streit über Wiederaufnahme von Atomtests  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

„Zum ersten Mal in seiner Geschichte kennt Frankreich keine direkten Bedrohungen in der Nähe seiner Grenzen.“ So steht es im „Weißbuch“ für die Verteidigung bis ins Jahr 2010, das am Mittwoch dem Parlament in Paris vorgelegt wurde. Doch der schöne Satz ist keinesfalls beruhigend gemeint. Im Gegenteil – gerade das Fehlen der bekannten Risiken macht die neue Weltlage so unsicher und gefährlich, urteilen die 100 militärischen und politischen Experten, die das „Weißbuch“ im Regierungsauftrag verfaßt haben. Ihre Empfehlung: Frankreich soll künftig auch an weit entfernten Orten schneller einsatzbereit sein – notfalls an verschiedenen Kriegsschauplätzen gleichzeitig – es möge sein konventionelles Waffenarsenal ausbauen, seine Atomwaffen beibehalten und den zehnmonatigen Militärdienst mit ins nächste Jahrtausend nehmen. Sparen kann das Land allenfalls bei der Rüstungsproduktion, da empfehlen die Experten eine verstärkte Zusammenarbeit mit ausländischen – speziell deutschen – Unternehmen. Der französische Militärhaushalt freilich müsse trotzdem steigen.

„Wir müssen wachsam bleiben“, sagte Verteidigungsminister François Léotard, als er das 170 Seiten starke „Weißbuch“ zusammen mit Premierminister Edouard Balladur vorstellte. Es soll künftigen Regierungen Richtlinie sein und dem Mann und der Frau auf der Straße verdeutlichen, welche Gefahren ihnen drohen. Die Experten haben keine Ahnung, wie die Welt im nächsten Jahrtausend aussehen wird. Sie wissen nur, daß sie weiterhin gefährlich bleibt.

Überall lauern Gefahren von „S1“ bis „S6“

Sechs Krisenszenarios sind detailliert im „Weißbuch“ beschrieben – sie alle könnten französische Militäreinsätze erforderlich machen. Die Liste beginnt mit regionalen Konflikten, die nicht die vitalen Interessen Frankreichs berühren und gemeinsame internationale Einsätze erfordern. Derartige als „S1“ bezeichnete Krisen erwarten die Experten kurz- und mittelfristig vor allem im Nahen Osten und im Mittelmeerraum. Erst um die Jahrhundertwende rechnen sie mit regionalen Konflikten im Nahen Osten, Mittelmeerraum und Europa, die auch Atommächte einschließen könnten („S2“). Angriffe auf französische Interessen in den überseeischen Gebieten („S3“) prognostizieren sie ebenfalls erst mittelfristig. Die Gefahr derartiger Konflikte wachse mit der Zeit. Mit „sehr hoher Wahrscheinlichkeit“ müsse Frankreich hingegen sein Militär zu Einsätzen nach Afrika südlich der Sahara schicken („S4“). Ebenfalls „sehr hohe Wahrscheinlichkeit“ hätten französische Einsätze im Rahmen internationaler Mandate für die Verteidigung des Friedens „auf allen Kontinenten“ („S5“). Als „sehr unwahrscheinlich“, aber langfristig keinesfalls ausgeschlossen und mit „tödlichem Risiko“ verbunden, nennt das Weißbuch schließlich eine atomare Drohung gegen Westeuropa („S6“), auf die atomar reagiert werden müsse.

22 Jahre nach dem letzten „Weißbuch“ ist dieses neue Werk die französische Reaktion auf die veränderte Weltlage. Im Gegensatz zu anderen Ländern des westlichen Bündnisses äußert Frankreich darin keine Abrüstungsvorhaben. Völlig ausgespart ist auch die Frage künftiger Atomtests im Pazifik. Seit zwei Jahren hält sich das Land an ein Moratorium, das der sozialistische Staatspräsident François Mitterrand als oberster Militärchef verfügt hat. Mitterrand sorgte auch dafür, daß das „Weißbuch“ dieses heikle Thema meidet. Doch die konservative Regierung hat bereits mehrfach ihren Dissens angemeldet. Verteidigungsminister Léotard will die Tests „sobald wie möglich“ wieder aufnehmen, weil sonst keine „Modernisierung unserer nuklearen Werkzeuge“ möglich sei. Aus dem eigenen Lager wurde Regierungschef Edouard Balladur bereits vorgeworfen, er sei ein „Feigling“, weil er sich nicht gegen den Präsidenten durchgesetzt habe. Anders als 1972 öffnet das neue „Weißbuch“ Wege für eine verstärkte Zusammenarbeit französischer Militärs mit internationalen Organisationen, auch wenn eine Rückkehr in die militärische Integration des Atlantischen Bündnisses nicht vorgesehen ist.

Die Zeiten ändern sich, Staaten hören auf zu existieren, und ganze Blöcke verschwinden von der politischen Weltkarte – Frankreich bleibt sich treu. Mit dem Satz „Frankreichs Verteidigung muß französisch sein“, begründete Charles de Gaulle in den 50er Jahren die Gründung der atomaren Force de Frappe und in den 60er Jahren den Ausstieg seines Landes aus der militärischen Integration der Nato. 30 Jahre danach trägt heute sein sozialistischer Nachfolger François Mitterrand die Staffel weiter. Allein steht er damit auch nach dem Ende des Kalten Krieges nicht: Keine der großen französischen Parteien, von der rechtsextremen „Front National“ über die Mitte bis hin zu den KommunistInnen stellt das Dogma von der Unabhängigkeit durch atomare Abschreckung in Frage.

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