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Wie kommt das Gift in die Kuh?

Viele Ungereimtheiten im Giftmilchskandal von Dessau: Ist das Gift eine Altlast oder zugefüttert worden?  ■ Von Michaela Schießl

Dessau (taz) – Friedrich Helm, Herr über 730 Rinder und Milchkühe in Dessau-Mildensee, muß heute ausnahmsweise nicht in den Stall. Sein Ziel ist der Rechtsanwalt. Der Geschäftsführer der Landwirtschaftsgesellschaft mbH muß Konkurs anmelden. Seine Kühe sind verseucht mit der Chemikalie Beta-HCH, einem krebserregenden Abfallprodukt aus der Lindanproduktion. Vor 14 Tagen schon hat ihm das Umwelt- und das Veterinäramt in Dessau die Schlacht-Rinder gesperrt, seit Freitag darf er keine Milch mehr verkaufen.

„Am Freitag haben wir die achtfache Menge des Grenzwertes von 0,075 Milligramm pro Kilo Milch gemessen“, sagt Dr. Herbert Bode, Leiter des Amts für Umwelt- und Naturschutz Dessau. Und weil es in dieser Hinsicht keinerlei Ermessensspielräume gebe, habe man die Produktion sofort gestoppt. Seither fließt die Milch durchs Dessauer Klärwerk, statt in Weißenfels zu Joghurt veredelt zu werden. 5.000 Liter werden täglich entsorgt. 11,50 Mark muß Helm pro Kubikmeter dafür bezahlen.

„Das ist das Ende“, klagt Helm. Seit langem ist bekannt, daß das Gelände um den Fluß Mulde kontaminiert ist mit Beta-HCH. Denn bis zum Einstellen der Lindan-Produktion 1983 leitete das benachbarte Chemiewerk Bitterfeld den Abfallstoff ungefiltert in den Fluß ein. Die Mulde jedoch hat die Eigenheit, mehrfach jährlich über die Ufer zu treten. Wenn das Wasser wieder geht, bleibt das Beta-HCH im Boden.

Kontaminiertes Futter in der Scheune?

1990/91 begann das Umweltamt Dessau, Proben von den ufernahen Wiesen zu nehmen. Zeitgleich wurden Futtermittelproben getestet. Das Veterinäramt begann, Milch und Fleisch von Kühen, die auf diesen Gebieten gehalten wurden, zu untersuchen. Der zulässige Grenzwert wurde von 0,1 Milligramm pro Kilo Milch auf 0,075 Miligramm herabgesetzt. Am 3. Januar 1992 schließlich wurden hochkontaminierte Flächen von der Lebensmittelproduktion ausgeschlossen. Friedrich Helm, der die LPG in eine GmbH umgewandelt hatte, verlor 44 Prozent seines Landes, auf dem er hauptsächlich Futter angebaut hatte.

Doch offenbar ist ein Teil des kontaminierten Futters in der Scheune geblieben. Im April 1993 mußte Helm zur Anhörung im Umweltamt erscheinen. Die Beta- HCH-Werte in der Milch seiner Kühe überschritten den Grenzwert leicht. Einen Monat später wiederholte sich der Vorfall. Helm wurde mit einem Bußgeld belegt. Seither blieben die Proben, die das Veterinäramt regelmäßig nahm, allesamt unter den Grenzwerten. Bis am vergangenen Freitag plötzlich die achtfache Menge an Beta- HCH gemessen wurde.

Helm erklärt sich das so: „Die Tiere haben als Jungvieh auf den verseuchten Weiden gegrast. Dabei haben sie Fett angesetzt, indem sich die Chemikalie angesammelt hat. Nun, im strammen Winter, verbraucht die Kuh aufgrund der Kälte mehr Energie als normal. Sie greift ihre Fettreserven an, das Beta-HCH wird freigesetzt.“

Eine Erklärung, die Dr. Jürgen Stephen vom Veterinäramt Dessau nur widerwillig hinnimmt. „Theoretisch ist das zwar möglich, aber die hohe Konzentration ist ungewöhnlich.“

Professor Achim Strey vom Institut für Tierarzneimittel Berlin GmbH hält Helms Theorie für puren Unsinn. „Ein Jungtier setzt kein Fett an, das entwickelt sich erst später. Dann allerdings ist es möglich, daß sich enorme Mengen Beta-HCH anreichern können, da sich die Chemikalie – Halbwertzeit 30 bis 40 Jahre – nur ganz langsam abbaut.“ Wie es allerdings dazu kommen kann, daß die Kuh plötzlich solche großen Mengen Fett abbaut, ist unerklärlich. „Selbst wenn die Kuh in Leistungsstreß kommt, wird das Fett langsam und kontinuierlich angegriffen und erscheint nicht plötzlich in solch hoher Konzentration in der Milch.“ Für Strey kann die hohe Konzentration nur aktuelle Gründe haben, sprich: von der Fütterung herrühren.

„Nie, nie wieder würde ich auf einem solchen Gelände Lebensmittelproduktion betreiben“, jammert Friedrich Helm. Schon lange debattiert er mit dem Landwirtschaftsministerium in Magdeburg darüber, seinen Betrieb umzuwandeln. Zu gefährlich ist die Lebensmittelproduktion auf dem vergifteten Gebiet. Das Futter für seine Rinder kann er nur noch zum Teil auf eigenem Gelände anbauen. Und Futter zu kaufen ist teuer. Hinzu kommen die ständigen Proben der Futtermittel, die Helm auf eigene Kosten durchführt – schließlich ist der Erzeuger verantwortlich für die Verwendung einwandfreien Futters. „Weil wir auf kontaminierten Gebiet produzieren, hat auch der Abnehmer ein gestrenges Auge darauf.“

Landschaftspflege statt Viehzucht

Eigentümlich ist, daß bei keinem der benachbarten Landwirtschaftsbetriebe, die unter ähnlichen Bedingungen produzieren, erhöhte Beta-HCH Werte aufgetreten sind. „Vielleicht, weil mein Land immer besonders stark überschwemmt wurde, wegen des Splits in der Mulde.“

Nach Helms Meinung müßte die Rinder- und Milchproduktion aufgegeben werden. Seine Vorstellung: Den Betrieb umwandeln in einen Landschaftspflegebetrieb. Das könnte einige der 38 Arbeitsplätze retten, und wäre zudem angebracht. Denn die Auelandschaft um den Fluß Mulde ist mit ihren jahrhundertealten Eichen einmalig in Europa. Wenn man die Gebiete nicht mehr nutzen kann, soll man wenigstens die Schönheit erhalten. Dazu bedarf es professioneller Pflege. Ließe man das Länd einfach brachliegen, käme es schnell zu Verbuschung.

Helms unverhohlene Absicht, die Tierproduktion einzustellen und statt dessen die Subventionen für Landschaftspflege zu kassieren, findet in Dessau-Mildensee wenig Anhänger. „Unsere Kühe haben schon immer hier gegrast, und wir leben alle noch. Früher haben wir sogar unser eigenes Wasser aus Brunnen geholt und getrunken, und nun soll plötzlich alles lebensgefährlich sein.“ Dummes Geschwätz, findet Helm. „Die Leute wissen nicht, was sie reden. Die gehen immer noch Pilze suchen im Wald und essen das Wild.“

Doch seine Fürsorge kommt schlecht an im Dorf. Böse Gerüchte machen die Runde. „Hinter der Schließung der Kolchose steckt doch die Geschäftsführung“, schimpft man hinter vorgehaltener Hand. „Die wollen die Kühe loswerden, um das Land schließlich an Investoren zu verkaufen. Wer weiß, was die den Tieren zu fressen gegeben haben.“

Wer glaubt, daß sich keiner um das vergiftete Land schert, irrt. Für das angrenzende Grundstück interessiert sich bereits ein Investor. Altengerechte Wohnungen sollen dort entstehen, und auch ein altengerechter Wohnungspark ist angedacht.

„Und wer hat das Mittelstück des fraglichen Landes gekauft? Ein Mitglied der Geschäftsführung der Landwirtschaftsbetriebes!“ sagt eine Einwohnerin. Ihr Verdacht: Die wollen die Landwirtschaft zum Baugebiet umwidmen und dann die Preise diktieren.

Die Rolle des Opfers nimmt man Helm nicht ab. „Der heult jetzt Krokodilstränen. Doch wer wirklich leidet, sind die Kleinbauern, die sich in der GmbH zusammengeschlossen haben.“

Für die Menschen in Dessau- Mildensee ist die Schließung ihrer ehemaligen Kolchose unverständlich, denn schließlich ist ihr Gebiet nunmehr ein Paradies: „Da hätten Sie mal früher kommen sollen! Da durften die Kinder nur mit einem Tuch vor dem Mund vor die Tür, und der Schaum auf der Mulde stand einen Meter hoch, und stank zum Himmel. Dagegen ist das jetzt himmlisch.“ Und ein Biosphärenreservat sei schließlich auch errichtet worden. „Da wachsen Kräuter, die es sonst nirgendwo gibt.“ Und wo solche Kräuter wachsen, können Kühe nicht vergiftet sein.

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