: Treffpunkt der Kulturen
■ Lissabon ist in diesem Jahr „Kulturhauptstadt Europas“
Athen, Florenz, Amsterdam, Berlin, Paris, Glasgow, Dublin, Madrid, Antwerpen: die Metropolen waren seit 1985 in dieser Abfolge jeweils für ein Jahr „Kulturhauptstadt Europas“. Dieses Jahr will sich Lissabon mit rund 1.000 Veranstaltungen als der kulturelle Nabel Europas präsentieren. Heute ist der offizielle Beginn. Die Palette des Kulturangebots ist vielfältig, von allem gibt's etwas: visuelle Künste (Kino, Video, Fernsehen), Ausstellungen, bildende Kunst, Tanz, Theater, klassische Musik, Oper, Jazz, volkstümliche Musik, Literatur, angewandte Kunst (Design, Fotografie), Architektur, städtebauliche Maßnahmen.
Portugal mit seiner Hauptstadt Lissabon, geographisch an der europäischen Peripherie gelegen, will acht Jahre nach dem Beitritt zur Europäischen Union endlich den Sprung weg vom Rand rein ins europäische Rampenlicht schaffen. Victor Constancio, der Präsident der Trägergesellschaft „Lisboa 94“, setzt auf Lissabon als „Treffpunkt der Kulturen“. Fernando Pessoa, der bedeutendste portugiesische Dichter der Moderne, ist der Kronzeuge dieser Idee. Im Universalismus sah Pessoa das Vermächtnis Portugals: Portugiesisch zu sein heiße, europäisch zu sein. Ergo soll unter dem Signet „Lisboa 94“ der Beitrag der portugiesischen Kultur zur europäischen Zivilisation herausgestellt werden. Constancio hofft durch die Organisation des ganzjährigen Kulturfestivals „mehr Anerkennung von den anderen Europäern zu finden und bei ihnen eine andere Sichtweise von Portugal herzustellen“.
Der Dialog der Kulturen, ein hoher Anspruch. Der Blick ins Programm zeigt einen Hang zur Europäisierung und Internationalisierung der Festivalkultur. Lissabon, die Kulturhauptstadt, ist vor allem ein Großereignis mit reichlich europäischer Hochkultur. Als deutsche Kulturträger sind unter anderm dabei: die Münchner Symphoniker und drei weitere Orchester, das Tanztheater von Pina Bausch, Peter Steins Moskauer Inszenierung der „Orestie“. Da bleibt das „Schaufenster portugiesischer Kultur“ etwas im Hintergrund. Auch die ehemaligen portugiesischen Kolonien, Angola und Mosambik sind nicht aktiv beteiligt (es gibt nur eine Ausstellung „Angolanische Skulptur“). Und die „Nelkenrevolution“ vom 25. April 1974, durch die sich Portugal vom Joch des Salazar-Regimes befreite, wird nur stiefmütterlich im Rahmen von „Lisboa 94“ gefeiert: Durch die Ausstellung „Die Farbe der Revolution“ (Fahnen, Wandmalereien, Graffiti) und durch die Hommage an José Afonso, dessen Lied „Grandola, vila morena“ zum Symbol der Revolution wurde.
Wegen Pina Bausch und Peter Stein wird kaum jemand extra nach Lissabon fliegen – bis auf ein paar unersättliche Jet-set-Kulturtouristen vielleicht. Und dennoch ist Lissabons europäische Kulturhoheit auf Zeit ein willkommenes Mittel zum Zweck: sie soll den Tourismus in die „weiße Stadt“ am Tejo und nach Portugal ankurbeln.
Kulturpolitik als Hebel der Tourismuspolitik: Der touristische Stimulus ist das eigentliche Motiv. Denn mit 8 Prozent am Bruttosozialprodukt und gut 20 Prozent der Deviseneinnahmen ist der Tourismus einer der wichtigsten Wirtschaftszweige des Landes. Günter Ermlich
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