: Ohne Außenwelt
Ästhetik des Schreckens. Cineasten aus Sarajevo, Mitglieder der Gruppe SAGA, zeigen Autorenfilme aus der belagerten Stadt ■ Von Arnd Wesemann
Ademir Kenovic, ein bosnischer Filmregisseur mit distinguiert verhaltener Wut, traf die versprengten Studenten der geschlossenen Filmakademie von Sarajevo auf der Straße, in Hospitälern oder beim Wasserholen. Die jungen Filmer und Dokumentaristen gründeten SAGA, die „Sarajevo Group of Authors“. Seit 22 Monaten halten sie in der eingekesselten Stadt die Filmkultur am Leben. Kultur ist ihnen so wichtig wie Wasser und Brot.
Wer die vom ost-westeuropäischen Kulturzentrum „Palais Jalta“ initiierte deutsche Erstaufführung der SAGA-Dokumente sieht, begreift den Unterschied zwischen Medien und Kultur. Medien hängen an der Leine politischer Interessen. Kultur kämpft um ihr Überleben. Wie überall. Susan Sontags Auftritt mit Becketts „Warten auf Godot“ im vorigen August war medienwirksam (und ist darum kritisiert worden) – aber nur, weil der Rest der Intellektuellen sich in Sarajevo nicht hat blicken lassen. Die berechtigte Kritik, die Sontag habe keine Kunst geschaffen, sondern als Amateurin unter Amateuren Belagertentheater gespielt, trifft teilweise auch die bosnischen Filmer. Sie führen – ihrer ästhetischen Wahlfreiheit beraubt – Reality-Splatter-Filme vor.
Sarajevo braucht Wasser. Die Bevölkerung ist ununterbrochen mit Plastikkanistern unterwegs. Lange Zeit war die örtliche Brauerei der einzige Ort, der Wasser lieferte. Bis eine Granate von den Bergen herab einschlug. Der Film „Wasser und Blut“ von Ibrahim Helja und Ferid Pasovic zeigt nichts anderes als einen kleinen Laster, in den nach und nach die Opfer gehievt werden. Mit zerplatzten Köpfen. Mit von Granatsplittern durchschossenen Schädeln. Einer greift eine weibliche Leiche am Haarschopf und hebt diesen an. Darunter befindet sich nichts mehr. Man muß zuschauen. Nicht des Grauens wegen. Sondern, um zu sehen, was die Medien nicht zeigen. Die diesen Blick kaum aus Jugendschutzgründen versagen, sondern um, so Kenovic, die Welt ruhig atmen zu lassen. Sechs bis acht Tote täglich, daran hat man sich gewöhnt. Doch die daran Gewöhnten denken, vielleicht ist in Sarajevo Bürgerkrieg, oder ist noch immer nicht erobert worden, oder ...
Kenovic haßt die Medien, weil sie durch subtile Zensur nicht informieren können. Er verabscheut die Verwischung des Unterschieds von Information und Propaganda. Und veranschaulicht dies durch einen treffenden Vergleich, der haarklein nacherzählt werden muß: Die Situation in Ex-Jugoslawien gleicht einem Banküberfall. In der Kassenhalle stehen verschiedene Kunden und machen ihre Geschäfte mit den Bankangestellten. Plötzlich kommen Räuber, schießen auf die Leute und bedienen sich am Safe. Einige der Kunden und der Angestellten schließen sich den Räubern an, die meisten nicht. Die UNO-Polizei wird gerufen und sagt: Aufhören! Weil sich keiner um ihre freundliche Bitte kümmert, ruft die Polizei zu aller Überraschung: Hat jemand Hunger? Wer braucht Decken? Frauen, Alte und Kinder zuerst. Die Journalisten treffen ein und mutmaßen, es sei eine jüdische Bank. Ihre Kunden kommen zumeist aus dem Chinesenviertel und werden von einer italienischen Räuberbande überfallen. So wird es wohl ein Vielvölkerkrieg sein. Doch Kenovic hört nicht auf zu betonen: Es ist kein Bürgerkrieg. Es handele sich um die Verteidigung der Demokratie gegen den Faschismus, welchen (serbischen) Namens auch immer. Sarajevo selbst sei multikulturell wie seit über tausend Jahren.
Die bosnischen SAGA-Filmer finanzieren sich nicht aus Subventionen, sondern durch einen privaten Mäzen. Der amerikanische Milliardär George Soros, ein von den Nazis verfolgter Jude, spendete bislang 50 Millionen Dollar für humanitäre und regierungsunabhängige Projekte. Dafür sitzt er in Frankfurt mit am Tisch. Und richtet den Blick von Bosnien fort nach Makedonien. Makedonien, nördlich der griechischen Grenze, ist das letzte noch demokratische Balkanland. Griechenland, Mitglied der EG und der Nato, hat diesen letzten Flecken, auf dem eine reale Hoffnung auf ein multikulturelles und multireligiöses Leben noch möglich ist, von der Außenwelt abgeschnitten. Das kleine Makedonien kann nicht mehr mit dem Norden und nicht mehr mit dem Süden handeln. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann auch hier – durch den entstandenen Druck – Radikale die Regierung übernehmen und ähnlich totalitäre Strukturen mit Gewalt durchsetzen. Indem den Griechen ihr Nationalstolz auf das beidseitig der Grenze „Makedonien“ genannte Land zugestanden wird, machen sich EG und Nato mitschuldig an der Eskalation auf dem Balkan.
Wenn Medien nicht über das aufklären, was Finanziers und Künstler mitzuteilen haben, gewinnen ihre Aussagen überraschendes Gewicht, beinahe mehr, als es die Filme haben, derentwegen das Publikum gekommen war. Die Filme sind Innenansichten einer Stadt ohne Außenwelt. Kinder sitzen in schrottreifen Autos mit von Kugeln zersiebten Windschutzscheiben und träumen vom Reisen. Ein Krankenpfleger trägt ein amputiertes Bein nachts in einem Sack ins Krematorium und bemerkt, daß es schwerer als ein Neugeborenes wiegt. Die zu Ruinen verbogenen Stahlskelette, Reste der olympischen Winterspiele in Sarajevo 1984, sind ein Hohn auf den olympischen Gedanken der Völkerverständigung. Die psychische und physische Zerstörung findet ihren Höhepunkt in der „Beichte eines Monsters“ von Ademir Kenovic und Ismet Arnautalic: dem Verhör des ersten Kriegsgefangenen, der für die im Detail eingestandenen Kriegsverbrechen – Vergewaltigung von gefangenen Frauen und ihre anschließende, beiläufige Tötung; die Exekution ganzer Familien; die Erschießung von Gefangenen über Massengräbern – zum Tode verurteilt worden ist: ein netter Junge, der gern Popmusik hörte und durch einen Cousin bei der serbischen Miliz angeworben wurde. Um Geld zu verdienen. Warum er diese Greuel begangen hat? Weil alle es tun.
Die Videos der Gruppe SAGA, die zur Zeit in mehreren deutschen Großstädten zu sehen sind, kann man über die Produktionsfirma NOE in Paris bestellen: 0033-1-44 15 66 44. Der Frankfurter Journalist Klaus Hensel hat gute Kontakte zu SAGA: 06047-67431.
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