: Der Putsch als Geburtshelfer des Neoliberalismus
■ Das erfolgreiche „Modell Chile“ hat seine Wurzeln im Militärputsch von 1973
„Ich hatte niemals Machtambitionen. Wir selbst haben gesagt, daß wir willens sind, die Demokratie zu verbessern und wieder einzurichten.“ General Augusto Pinochet, der einstige Kommandeur des Militärputsches von 1973, ist noch immer Oberbefehlshaber der chilenischen Armee. Anläßlich seines 78. Geburtstages bescheinigte er sich, er könne nun sprechen „wie ein alter General, der die Schlacht geschlagen hat, nach einem Kampf, den wir gut beendet haben, den wir siegreich beendet haben“. Auf diesem Schlachtfeld sind viele zurückgeblieben. Mindestens 3.000 Erschossene und Verschwundene, etwa eine Million ins Exil vertriebene Chilenen, von denen nach offiziellen Schätzungen noch immer 200.000 im Ausland leben. Aber das ist kaum noch ein Thema in Chile 1994.
Mit der Regierung Aylwin sind 1990 parlamentarische Verhältnisse nach Chile zurückgekehrt. Heute tritt die Regierung des mit überwältigender Mehrheit gewählten Eduardo Frei ihr Amt an – der erste Präsidentschaftswechsel zweier durch Wahlen legitimierter Amtsinhaber seit der Diktatur. Vor allem aber sind es die aktuellen Wirtschaftsdaten, die in Chile eine Atmosphäre geschaffen haben, in der die Erinnerung an den blutigen Preis des „chilenischen Modells“ verblaßt.
Das Bruttoinlandsprodukt wächst seit 1984 ununterbrochen, wobei lediglich 1985 und 1990 die Wachstumsraten unter fünf Prozent lagen. Seit 1989 wurden fast 600.000 neue Arbeitsplätze geschaffen, so daß die offizielle Arbeitslosenquote 1993 auf 4,5 Prozent gesunken ist. Auch die rigorose Öffnung des chilenischen Marktes verlief in den letzten Jahren recht erfolgreich: Der Export ist zwischen 1989 und 1993 um 45 Prozent gestiegen und hat mittlerweile 10 Milliarden Dollar erreicht. Der Anteil der Fertigwaren hat zugenommen. Heute werden etwa 3.500 verschiedene Produkte exportiert, was eine Verdoppelung gegenüber 1989 bedeutet. Wachstumsraten und Exportsteigerung ermöglichten – zusammen mit der Umwandlung von Schuldscheinen in Anteilstitel an chilenischen Unternehmen – eine erhebliche Reduzierung der Auslandsverschuldung. Die öffentliche Auslandsschuld konnte in den letzten vier Jahren um 26 Prozent auf neun Milliarden Dollar gesenkt werden. Gleichzeitig wuchsen die Devisenreserven auf zehn Milliarden Dollar.
Derart günstige Rahmendaten kann kaum ein anderes Land Lateinamerikas aufweisen. Und so bleibt die internationale Anerkennung für das „chilenische Modell“ nicht aus: Das US-Institut „Standard & Poor“ stufte Ende 1993 Chile als sicherstes Investitionsland Lateinamerikas ein. Das „Pinochet-Modell“ empfiehlt sich zur Nachahmung „für fast jedes land, das die Überwindung der sozialistischen Armut sucht“, heißt es in der angesehenen Zeitschrift Foreign Affairs. Der Erfolg des „Pinochet- Modells“ sei dem Kampf des Militärs gegen den Staatsapparat zu verdanken, erfährt der verblüffte Leser. Der Militärputsch als Geburtshelfer des Neoliberalismus.
Ausführlich wird das auch in der chilenischen Zeitung El Mercurio geschildert – eine Zeitung, die 1973 die Steckbriefe der von der Militärjunta gesuchten Mitglieder der Allende-Regierung veröffentlichte: „Es war diese Vision, mehr als der politisch-militärische Kampf zwischen den bewaffneten Streitkräften und den traditionellen Parteien während sechzehn Jahren, die das Land veränderte, in einem Ausmaß, daß nur wenige Chilenen der Vergangenheit nachtrauern.“
Und weiter: „Dieses Modell basiert auf einer Kombination von politischer Repression und wirtschaftlichem Liberalismus: Ein Machthaber erzwingt eine Periode der wirtschaftlichen und politischen Einschränkung, aus der das Land hervorgeht mit einer Marktwirtschaft, einer stabilen Gesellschaft und einer politischen Klasse, die dann bereit ist, die Regierung zu übernehmen.“
Das „Modell“ hat seine Schattenseiten, auch heute. Als in der Zeit der Diktatur wichtige Grundrechte abgeschafft und die Organisationen der Arbeiter und Angestellten allesamt unterdrückt wurden, machte das den Weg frei für eine gigantische Umverteilung der Einkommen – und die hält bis heute an. Noch 1993 stellte das „Instituto Nacional de Estadisticas“ fest, daß die 20 Prozent reichsten Haushalte immer noch einen elfmal so großen Anteil am Gesamteinkommen auf sich vereinen wie die 20 Prozent ärmsten Haushalte (59,9 Prozent gegen 5,1 Prozent).
Das seit zehn Jahren ununterbrochene Wirtschaftswachstum, das sich unter der Regierung Aylwin noch beschleunigt hat, bewegt sich also bisher noch auf der Basis einer erheblichen sozialen Ungleichheit, einer deutlichen Einkommenspolarisierung und eines bedrückenden Sockels von Armut. Im Januar gestand das auch der scheidende Präsident Aylwin ein. Er mahnte, der Markt sei „nicht gerecht in der Verteilung des Reichtums, er kennt keine soziale Rücksichtnahme, ist schrecklich grausam, favorisiert die Mächtigsten, vergrößert das Elend der Ärmsten und verschärft die soziale Ungleichheit.“
Zwar erwartete die Mehrheit der Chilenen sehnsüchtig das Ende der Militärdiktatur 1989. Aber auch die ersten freien Wahlen 1990 konnten das „Modell“ nicht mehr gefährden. „Ich habe es schon früher gesagt: Wenn wir erfolgreich sind, wird das bedeuten, daß die Wahlen nicht sehr wichtig sein werden“, bemerkte der ehemalige Finanzminister der Militärjunta, Hernán Büchi, anläßlich der Vorstellung seines Buches „Die wirtschaftliche Transformation Chiles“ in Santiago unmittelbar vor den Präsidentschaftswahlen im Dezember 1993.
Die kommende Regierung muß in ihrer Arbeit nicht nur mit Pinochet rechnen, der nach wie vor im Amt ist. Sie ist auch mit einer Fülle von Einschränkungen demokratischer Machtausübung konfrontiert, die in der unter Pinochet verabschiedeten Verfassung festgeschrieben wurden. Der gegenwärtige Finanzminister Foxley sieht in den zahlreichen verfassungsmäßigen Einschränkungen der politischen Tätigkeiten sogar etwas Gutes, denn sie schufen „ein neues Szenarium, das die Chilenen lehrte, den systematischen Dialog einzuüben“. Und weiter: „Das neue politische Szenarium hat auch dazu gedient, die Pläne der radikalsten Sektoren des politischen Spektrums zu mäßigen. Die Linke mußte wählen zwischen ihrem Wunsch, zur Konsolidierung der Demokratie beizutragen und ihrem alten Streben nach revolutionärer Umwandlung der Gesellschaft... Die Gruppierungen mit radikaleren Überzeugungen sehen sich eingebunden in eine kontinuierliche Übung von Verhandlungen und Kontakten mit den konservativeren Gruppierungen. Auf jeden Fall wäre dies nicht eingetreten mit einem Szenarium ohne derartige Einschränkungen, die wir geerbt haben. Wir haben hier, alles in allem, eine unerwartete Konsequenz der Restriktionen und Einschränkungen, die die Demokratie vom autoritären Regime geerbt hat.“ Peter Neumaier
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen