Siemens bleibt auf Atomkurs

Auf der Hauptversammlung verweigerten Vorstand und Aufsichtsrat eine politische Debatte über das atomwirtschaftliche Engagement des Elektrokonzerns  ■ Aus München Klaus-Peter Klingelschmitt

Eine Hauptversammlung sei kein politisches Forum, erklärte Hermann Franz, Aufsichtsratsvorsitzender der Siemens AG, fürsorglich gleich zu Beginn der sogenannten Aussprache. Und weil man(n) bei Siemens die politische Debatte offenbar scheut wie der Teufel das Weihwasser, ging Vorstandschef Heinrich von Pierer in seinen Rechenschaftsbericht für das abgelaufene Geschäftsjahr auf den umstrittenen Konzernbereich „Kernenergieerzeugung“ erst gar nicht ein.

So mußten die rund 5.000 anwesenden AktionärInnen erst den Geschäftsbericht lesen, um sich — zumindest ansatzweise — über die Aktivitäten des Elektromultis auf „kerntechnischem Gebiet“ (Geschäftsbericht) informieren zu können. Mehr als ein kleiner Seitenhieb auf den hessischen Umweltminister Joschka Fischer war an politischen Einlassungen aber auch dem Geschäftsbericht nicht zu entnehmen: „Die Fertigung von Mischoxyd-(MOX)-Brennelementen ist in Deutschland seit über zwei Jahren blockiert.“ Das Wort „Plutonium“ kommt im Geschäftsbericht 1992/93 nicht vor.

So blieb es den kritischen AktionärInnen auf der Hauptversammlung vorbehalten, vom Vorstand einen „Kurswechsel“ zu fordern: Siemens dürfe weder neue Atomkraftwerke planen, entwickeln oder bauen noch die Laufzeit bestehender Atomanlagen verlängern. Und der Konzern habe umgehend aus der Verarbeitung von Uran und Plutonium in Hanau auszusteigen, hieß es in einem Flugblatt des „Dachverbandes der kritischen Aktionärinnen und Aktionäre“, das gestern vor der Münchner Olympiahalle an alle Besucher verteilt wurde. Doch auch der massive Auftritt der kritischen AktionärInnen auf der Hauptversammlung, deren lokale VertreterInnen sich vor allem gegen den von Siemens und Framatome gemeinsam mit dem Land Bayern avisierten Bau eines Atomforschungsreaktors in Garching bei München aussprachen, beeindruckte die restlichen AktionärInnen jedoch nicht. Der Vorstand wurde am späten Nachmittag mit satter Mehrheit entlastet. Schließlich hatte der Vorstandschef die Ausschüttung von 13 Mark Dividende pro Aktie angekündigt — „trotz der etwas schwächeren Ertragssituation unserer geschäftsführenden Bereiche“ (Pierer).

Auch an Siemens ist die Wirtschaftskrise nicht spurlos vorübergegangen, auch wenn sich der Konzern nach Auffassung von Pierer auf den Weltmärkten „gut geschlagen“ habe. Die schwache Nachfrage im Inland und Westeuropa konnte der Konzern durch höhere Auftragseingänge aus anderen Regionen der Welt knapp kompensieren. So ist das „Reich der Mitte“ (Stundenlohn: 2,50 Mark) dem Konzern im laufenden Geschäftsjahr weitere zehn Joint-ventures wert, denn, wie Pierer bemerkte, ist „die Zeit, in der die Industrieländer der alten Triade (Westeuropa, Japan und USA) Exklusivanbieter von High-Tech waren, vorbei“. Unter dem Strich erwirtschaftete der Konzern im Geschäftsjahr 1992/93 dennoch ein stolzes Ergebnis: 2,912 Milliarden Mark vor Steuern. Pierer: „Bei einem industriellen Umfeld, das durch Ertragsrückgang und Verluste gekennzeichnet ist, eine sicherlich nicht unbefriedigende Entwicklung.“

Daß diese Entwickung auch mit einer „schmerzlichen Verringerung“ der Mitarbeiterzahl in Zusammenhang gebracht werden muß, verschwieg Pierer nicht: Im Geschäftsjahr 1992/93 wurden 22.000 Stellen abgebaut. Weltweit beschäftigt Siemens derzeit 391.000 Menschen — davon 61 Prozent in Deutschland.

Das Boykottbündnis von rund 80 Organisationen gegen Siemens hat inzwischen offenbar auch beim Konzernvorstand für Irritationen gesorgt. Pierer jedenfalls sah sich gestern genötigt, den AktionärInnen ein Flugblatt an die Hand zu geben. Darin weist die Konzernleitung darauf hin, daß Siemens der weltweit größte Hersteller von Solarzellen sei und daß der Anteil des Nuklargeschäfts am Konzernumsatz bei nur drei Prozent liege. Und aus diesem Nukleargeschäft könne der Konzern nicht, wie von den BoykotteurInnen gefordert, einfach aussteigen, weil es sich bei den Aktivitäten vornehmlich um „Serviceleistungen“ zur Erhaltung und Verbesserung der Sicherheitsstandards bestehender Kraftwerke handele. Daß Siemens zusammen mit Framatom bereit ist, den Forschungsreaktor in Garching zu bauen, in dem waffenfähiges Uran zum Einsatz kommen soll, stand allerdings nicht in dem Vorstandsflugblatt.