Intelligenz und Barbarei

■ Über Peenemünde: Anmerkungen zu der Kanal-4-Produktion "Hölle im Berg", So., 23.55 Uhr, RTL

Als am 20. Februar 1962 die erste bemannte US-Rakete abhob, erklärte Präsident John F. Kennedy: „Die Augen der Welt blicken nun in den Raum, zum Mond und zu den Planeten dahinter.“ Da sich der Blick der Politiker und Ingenieure so intensiv nach vorn richtete, geriet vorerst außer acht, daß führende Köpfe der NASA in die Verbrechen des Dritten Reiches verstrickt, zum Teil auch aktiv daran beteiligt waren.

Werner Freiherr von Braun, der 1970 zum stellvertretenden NASA-Direktor ernannt wurde, Arthur Rudolph, der Direktor des Saturn-Programms, und andere prominente Ingenieure gehörten zu den Wegbereitern der Raumfahrttechnologie, die sich, nach dem Standort der ersten Versuchsanlage, gern als „alte Peenemünder“ bezeichneten. Bis heute gilt Peenemünde weithin als Synonym für Forschergeist und die Pionierleistung deutscher Wissenschaftler, ein Nimbus, zu dem die Betroffenen durch zahllose Veröffentlichungen beigetragen haben. Ausgespart und verschleiert wird dabei, daß Peenemünde auch KZ- Standort war, ferner daß KZ- Häftlinge in der unterirdischen Fertigungsstätte „Mittelwerk“ unter unsäglichen Bedingungen Zwangsarbeit verrichten mußten, wobei mindestens 16.000 Menschen ihr Leben ließen.

In ihrem Dokumentarfilm „Hölle im Berg“ versuchen Hans Georg und Peter Kleinert diese Zusammenhänge aufzuzeigen, sie stützen sich dabei unter anderem auf Forschungsergebnisse des Osnabrücker Politologen Rainer Eisfeld. Anhand neuester Dokumente, so Eisfeld gegenüber der taz, läßt sich nun einwandfrei belegen: „Es hat in Peenemünde selbst ein KZ gegeben, dessen Häftlinge bereits an der eingeleiteten Serienfertigung der V 2 mitarbeiten mußten, und die Anforderung dieser Häftlinge ging direkt auf die Wissenschaftler zurück, konkret auf Arthur Rudolph.“

Rudolph besichtigte im April 1943 die Heinkel-Werke, wo bereits KZ-Häftlinge in der Fertigung eingesetzt wurden. Er gelangte zu der Erkenntnis, daß ähnlich auch beim Raketenbau verfahren werden könne und befürwortete in einer Aktennotiz die „Nutzanwendung für das Versuchsserienwerk“. Die Ingenieure forderten zunächst 1.400 Häftlinge an, insgesamt sollten 2.500 in Peenemünde eingesetzt werden.

Nachdem jedoch die Versuchsanlage am 18. April 1943 von britischen Bombern angegriffen worden war, erteilte Hitler den Befehl, die Raketenproduktion unter die Erde zu verlegen. Im Kohnsteinmassiv bei Nordhausen entstand das „Mittelwerk“, aus dem Fels gehauen wiederum von Zwangsarbeitern, die die Stollen nicht verlassen durften und unter mörderischen – selbst von Albert Sperr im nachhinein als „barbarisch“ beschriebenen – Bedingungen dahinvegetierten. Viele Häftlinge starben im Berg. Die Überlebenden verlegte man nach Fertigstellung der Produktionsanlagen in das Lager Dora, anfangs eine Außenstelle des KZs Buchenwald, später ein unabhängiges Konzentrationslager mit dem Namen Mittelbau.

Entgegen ihrer Darstellung haben die Raketeningenieure von der „KZ-Wirtschaft“ gewußt und sie zum Teil aktiv mitbetrieben. Rainer Eisfeld spricht in diesem Zusammenhang von „Teilverantwortung“, ein von Albert Speer entlehnter Begriff, den Eisfeld umdeutet „in dem Sinne, daß die Ingenieure verstrickt waren in die Anforderung, in die Beaufsichtigung, in die Ausbeutung der KZ- Häftlinge als Zwangsarbeiter“.

In den USA ermittelt seit 1972 das Office of Special Investigations (OSI) gegen nationalsozialistische Kriegsverbrecher. Auch Arthur Rudolph war von einer Anklage bedroht, er verzichtete daraufhin auf seine US-Staatsbürgerschaft und lebt seit 1984 in Hamburg.

„Es gibt“, berichtet Rainer Eisfeld, „gerade in der NASA durchaus Widerstände – und nicht nur bei emigrierten deutschen Ingenieuren – gegen diese Ermittlungen. Es gibt Loyalitäten und Solidaritäten, auch zwischen deutschen und amerikanischen Ingenieuren, die sich nach dem Krieg auch in den USA herausgebildet haben, und insofern sind die Ermittlungen des OSI keineswegs unumstritten.“ Um so dringlicher wird die Aufklärung über das opportunistische „Bündnis zwischen Intelligenz und Barbarei“ (Eisfeld). Die einschlägigen Forschungsergebnisse müssen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden – die Kanal-4- Produktion „Hölle im Berg“ leistet einen Beitrag dazu. Harald Keller