■ Scheibengericht: Michael Riessler
Heloise (Wergo WER 8008-2)
Wo ist der Ort der „Wahrheit“ in der zeitgenössischen Musik, wenn jeder Stil – von Weltmusik und Hardcore über Pop, Neue Musik bis Jazz – gleichermaßen Gültigkeit für sich beanspruchen kann? Der Komponist und Multiinstrumentalist Michael Riessler spürt das Dilemma – und sucht Rat bei mittelalterlichen Philosophen. Zum Beispiel bei Abaelard (1079–1142): „Die Wahrheit wird durch Infragestellung erzeugt und durch Disputation gepflegt.“
Diesen Satz stellt Riessler in den Mittelpunkt seiner neuesten Produktion, die 1992 bei den Donaueschinger Musiktagen live eingespielt wurde (und den Namen von Abaelards Schülerin und späterer Frau Heloise trägt). Riessler transportiert den Rat des Scholastikers in die Gegenwart. Er verwirft den Universalitätsanspruch der klassischen europäischen Tradition, um einen „Kulturrelativismus“ zu propagieren, der vielerlei Klänge schätzt, seien sie europäischer oder außereuropäischer Provenienz, elektronischer oder akustischer Natur, komponierter oder improvisierter Konsistenz.
Damit beginnt jedoch erst das Problem. Denn allzu leicht kann eine solche Haltung zu einer Art „Musik-Tourismus“ verkommen, wo der Künstler als Vergnügungsreisender in Windeseile alle möglichen musikalischen Landschaften, Gegenden und Zeitalter durchjettet, um sich überall das zu holen, was ihm gefällt – Verantwortung ist dabei naturgemäß seine Sache nicht, weder in sozialer, politischer noch gar in ästhetischer Hinsicht. Riessler ist sich der Schwierigkeit bewußt.
Ihm schwebt etwas anderes vor, wenn er in seinen Kompositionen den Diskurs der verschiedenen Spielweisen und der unterschiedlichen Musikerbiographien wie auch ihrer Instrumente anregt. An „schwarz und weiß“ interessiert ihn vor allem das „und“. Die Überlappungen, Verbindungselemente und Anknüpfungspunkte zwischen den Stilformen haben es ihm angetan, wenn er auf spannende Art und Weise mittelalterliche Drehleierklänge für Jazzimprovisationen öffnet, Tubablech über minimalistisches Filigran führt und den legendären Duft der Gärten des Orients (vielleicht ein bißchen zu folkloristisch) im Klang der arabischen Langhalslaute Oud zu fassen sucht – eingerahmt das Ganze vom Sphärentanz der Streichinstrumente.
Zweifellos ist die Gefahr, bei so viel Zutaten schwer danebenzulangen, beträchtlich. Riessler verwürzt sich allenfalls leicht, sein exhibitionistisches Virtuosentum wirkt manchmal unangemessen. Aber ohne Risiko, man weiß es, ist zu neuen Ufern nicht zu gelangen.
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