: Es wird ganz schön gesiebt und gerüttelt
■ betr.: „Japan ist anders“, taz vom 4.3.94
Zu behaupten, daß „Japan anders ist“, stimmt und stimmt gleichzeitig nicht. Grundsätzlich betrachtet, ist Japan ein hochmodernes Land kapitalistischer Prägung. Aber ein kollektiv-kapitalistisches Land, wo letztendlich genauso wie hier der Profit – und sei es der kollektiv erwirtschaftete – über das Überleben oder Untergehen entscheidet. Richtig ist, daß derzeit diese Form des „kollektiven Kapitalismus“ der weltweit effizienteste ist. Nicht mehr und nicht weniger. Und daß in diesem Sinne auch das Schulsystem für die Erzielung eines höchstmöglichen Output von verwertbarem Wissen – so wie es der Autor Reinhard Kahl punktuell richtig beschreibt – funktionalisiert wird.
Nur scheint Reinhard Kahl nicht darüber informiert zu sein, daß sich in Japan eine wenn auch noch verschwindend kleine „freie Schulbewegung“ entwickelt. Und Reinhard Kahl verrät uns auch nicht, daß sogar die Regierung schon Sonderkommissionen eingesetzt hat, um das rigide Aufnahmesystem auf jeder Schulstufe und sogar manchmal zum Kindergarten einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Und zu guter Letzt vergißt Reinhard Kahl, daß die „angesehenen Privatschulen und Universitäten“ horrend teuer sind. Wir sehen: Es wird ganz schön gesiebt und gerüttelt im japanischen Erziehungssystem. Bislang hat dies insoweit funktioniert, weil fast jeder entsprechend seiner Ausbildungsstufe und seines speziellen Schulabschlusses irgendwo eine Arbeitsstelle gefunden hat.
Zum Schluß bleibt noch zu erwähnen, daß Japan nunmehr bisher ungeahnte Schwierigkeiten auf dem Weltmarkt erfährt. Japans wirtschaftlicher Erfolg gerät zu einem Bumerang, da alle asiatischen Nachbarländer erfolgreich das japanische Modell in variierter Form abkupfern. Es wäre daher noch „vernünftiger“, sich umgehend mit dem „koreanischen“ oder „taiwanesischen“ oder „chinesischen“ oder sonstigen Modell zu beschäftigen. Der eigentliche Trugschluß aber, dem Reinhard Kahl vollkommen unterliegt, ist, daß er meiner Meinung nach die vorherrschende idiotische Form von Weltmarktkonkurrenz apologetisch hinnimmt. Und was ist denn eigentlich tragisch daran, falls Deutschland bis zum Jahre 2005 auf den 18. Rang unter den Industrienationen abrutscht? Tragisch ist doch vielmehr, daß Reinhard Kahl sich eigentlich gar nicht für Japan und seine Kultur interessiert, sondern nach dem Motto „study your enemey“ erfahren will, wie denn Deutschland wieder nach vorne rücken kann. Am besten noch vor Japan? Richard Pestemer, Neunkirchen
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