: Das Revival der kurzen Arbeitszeiten
Bei den diesjährigen Tarifrunden hielten neue alte Themen Einzug: Weniger arbeiten, mehr Jobs retten und Abstriche bei den Lohnprozenten / Einkommen sind nur selten die Hauptsache ■ Von Martin Kempe
Hamburg (taz) – Schon im Vorfeld der Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst stellte die ÖTV- Vorsitzende Monika Wulf-Mathies klar: „Das VW-Modell ist auf den öffentlichen Dienst nicht übertragbar.“ Und nachdem der Tarifabschluß am Wochenende unter Dach und Fach gebracht war, wiederholte sie noch einmal: „Der öffentliche Dienst ist nicht die Metallindustrie.“ Die ÖTV-Vorsitzende hat mit dieser abgrenzenden Feststellung alle Fragen nach beschäftigungssichernden Elementen im Tarifabschluß für den öffentlichen Beschäftigungssektor zurückgewiesen – und damit negativ jenen Themenwechsel der Tarifpolitik bestätigt, der die Tarifauseinandersetzungen der letzten Monate geprägt hat.
Noch ist die Tarifbewegung dieses Jahres nicht zu Ende. Die Gespräche bei den Banken laufen noch. Auch im Druckbereich wird noch verhandelt. Und die Aussichten auf Einigung sind angesichts des Forderungskataloges der IG Medien, der von den Druckarbeitgebern als „Tarifrevolution“ abgekanzelt wird, äußerst gering. Außerdem steht die Einigung in der Baubranche noch aus. Dennoch sind mit den Abschlüssen in der Chemieindustrie vom letzten Herbst, in der Metallindustrie und im öffentlichen Dienst die wichtigsten und beschäftigungsintensivsten Branchen „vom Tisch“, und zwar ohne Arbeitskampf. So wird auch die kampffreudige, aber finanzschwache IG Medien einen Streik kaum mehr riskieren können.
Die diesjährige Tarifauseinandersetzung wurde in doppelter Hinsicht von der veränderten sozialen Situation, von der explodierenden Massenarbeitslosigkeit geprägt. Einerseits hat sich dadurch das objektive Kräfteverhältnis zwischen den Tarifparteien zu ungunsten der Gewerkschaften verändert.
Nur durch verstärkte und öffentliche politische Mobilisierung ihrer Mitglieder konnte die IG Metall die Forderung der Metallarbeitgeber nach massiven Lohnsenkungen, nach arbeitsplatzvernichtender Arbeitszeitverlängerung und -flexibilisierung abwehren. Am Ende war den Strategen von Gesamtmetall das Risiko einer umfassenden politischen Konfrontation in den Betrieben zu hoch.
Andererseits hat in diesem Jahr ein tarifpolitischer Themenwechsel stattgefunden, der sich allerdings noch nicht in allen Branchen durchgesetzt hat. In den besonders krisenbetroffenen Branchen der Chemie- und Metallindustrie wurde die Beschäftigungssicherung, allerdings mit unterschiedlichen Akzenten, zum eigentlichen Thema der Auseinandersetzung. Im öffentlichen Dienst dagegen sei dieser Aspekt wegen der dort bestehenden hohen Arbeitsplatzsicherheit weniger relevant und spiele deshalb auch beim letzte Woche erzielten Abschluß keine Rolle, ließ die ÖTV mitteilen. Auch im expandierenden Baugewerbe ist Beschäftigungssicherung kein Thema.
So spiegeln die bisherigen Abschlüsse die beschränkte politische Reichweite der gegenwärtigen tarifpolitischen Diskussion innerhalb der Gewerkschaften wider: Es geht eben um die Sicherung bestehender Beschäftigungsverhältnisse, nicht aber um den Abbau von Arbeitslosigkeit, um eine offensive Strategie zur Umverteilung von Arbeit. Nur so ist zu erklären, weshalb es zwar in den Tarifabschlüssen für die Chemie- und Metallindustrie Regelungen zur Beschäftigungssicherung gibt, in den relativ stabilen oder gar expandierenden Sektoren dagegen nicht.
Angestoßen wurde die Diskussion um Beschäftigungssicherung von der Vereinbarung über die Viertagewoche bei VW. Noch vor dem niedersächsischen Pilotabschluß, der inzwischen auf die gesamte Metallindustrie Westdeutschlands übertragen wurde, hat der IG-Metall-Chef Klaus Zwickel ein wohlkalkuliertes politisches Signal gegeben: In einem Beitrag für die Frankfurter Rundschau bezeichnete er das VW-Modell als „historischen Schritt“, der Vorbild für eine allgemeine Regelung werden könne. Zwar beschränkt sich das VW-Modell ebenfalls nur auf die Sicherung vorhandener Beschäftigung. Aber sein tarifpolitisches Instrumentarium – Arbeitszeitverkürzung – weist über diese Beschränkungen hinaus, kann auch für eine offensivere Strategie der Arbeitsumverteilung eingesetzt werden.
Elemente des VW-Modells sind – gegen den erbitterten Widerstand der Arbeitgeber von Gesamtmetall, die eigentlich eine Arbeitszeitverlängerung durchsetzen wollten – als betrieblich ausgestaltbare Rahmenregelungen in den Tarifabschluß der Metallindustrie eingegangen. Die Gewerkschaft hat dafür mit einer geringfügigen Reallohnsenkung bezahlt, die sich für die Beschäftigten allerdings dann zu einem Problem auswachsen kann, wenn die Betriebe tatsächlich von der Option Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich versus Entlassungsmoratorium Gebrauch machen.
Die IG Chemie dagegen ist einen anderen Weg gegangen: Auch sie hat den Arbeitgebern größere Flexibilitätsspielräume zugestanden, aber Arbeitszeitverkürzungen nur gruppenspezifisch für ältere und jüngere Beschäftigte vereinbart. Gleichzeitig hat sie eine Absenkung der Einstellungstarife für Langzeitarbeitslose hingenommen – eine in den Gewerkschaften heftig umstrittene Regelung, weil damit das Prinzip des tariflich gesicherten Mindestlohns aufgeweicht wird. Ob damit tatsächlich der weitere Arbeitsplatzabbau in der chemischen Industrie gestoppt werden kann, darf bezweifelt werden.
Das soziale Klima in der Bundesrepublik ist härter geworden. Nur durch die Drohung einer auch für die Unternehmer unkalkulierbaren, bundesweiten sozialen Konfrontation konnten die Arbeitgeber der Metallindustrie in den sozialpartnerschaftlichen Kompromiß zurückgezwungen werden. Dieser orientiert sich vorerst noch am beschäftigungspolitischen Status quo. Aber immerhin ist das Thema Arbeitszeitverkürzung und Arbeitsumverteilung mit einer neuen Dynamik in die politische Debatte zurückgekehrt.
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