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Der Dichter als grausamer kleiner Junge

Affen, Okapis, Pinguine und überfahrene Mäuse – Durs Grünbeins neue Gedichte, eine ziemlich belebte und belebende Lektüre  ■ Von Jörg Lau

Teufel! Der kennt sich aber aus: läßt klassische Bildung auffahren – „Hegesias, ein Hedonist / der den Selbstmord empfahl“ und „Claudius Aelianus / Sophist, und als solcher fixiert / Auf das Leben der Tiere“ – und referiert ganz beiläufig den Fall des verrückten Joe Mellen- Bart Hughes, der sich selbst den Schädel öffnete, um Hirnflüssigkeit abzuzapfen. Auch das großegroße Thema der modernen Sprachskepsis scheut er nicht anzusprechen – jenen „Riß / Zwischen Namen und Dingen“. Da möchtest du den Band schon nach dem ersten Blättern eingeschüchtert (und auch ein wenig gelangweilt) zur Seite legen, als endlich ein Satz dich an den Haken bekommt: „Was, wenn dir das alles eines Tages egal ist? Zerstreut / Nimmst du die andern wahr, die Gefährten / Von damals, von morgen, die Zeitgenossen / Die ihre Leben entwickeln wie Filme, und nichts wird sichtbar...“ Und dann fängst du noch einmal an zu lesen, von vorne.

Nach seinen ersten beiden Gedichtbänden, „Grauzone morgens“ (1988) und „Schädelbasislektion“ (1991), von der Kritik wohlwollend bis enthusiastisch aufgenommen, legt Durs Grünbein nun seine Beute der letzten drei Jahre vor: einen Band über und voller „Falten und Fallen“. Er wird ihm neue Lorbeeren einbringen – wenn es auch nur halbwegs mit rechten Dingen zugeht.

Grünbein arbeitet weiter an dem alten Thema von Verhirnung und Regression: Immer ist da noch diese „Trauer, geboren zu sein und nicht als Tier“. Die neuen Texte verlassen sich zum Glück nicht auf die seit einigen Germanistengenerationen verbürgte poetische Legitimität des Themas, die an einen großen Namen – Gottfried Benn – geknüpft ist. Sonst wäre auch der Kitsch programmiert, dem ja selbst der frühe Benn schon gelegentlich verfiel, wenn er sich etwa in den Zustand der biologischen „Ururahnen“ zurückträumte, in jenes „Klümpchen Schleim in einem warmen Moor“. Mit dergleichen Männerphantasien hat Durs Grünbein nicht viel zu schaffen. Er spinnt die Sache ganz anders aus, wie schon drei Tiergedichte zeigen, die offenbar nach Beobachtungen in Zoos entstanden sind. Die Texte sind jedenfalls „Einem Schimpansen im Londoner Zoo“, „Einem Okapi im Münchner Zoo“ und „Einem Pinguin im New Yorker Aquarium“ gewidmet. Man darf das ruhig als Variation auf Rilkes berühmten „Panther“ lesen, dessen Käfig im Pariser Jardin des Plantes stand: Da hat sich einiges in unserem Naturverhältnis verändert. Anders als Rilkes Panther ist Grünbeins Okapi nämlich die Freiheit nicht mehr zu wünschen: „Zu kurz für Savannen, hat dieser geduldige, rostbraune Hals / Die Strohballen verdient, den vergitterten Schlafstall. / Denn die gerodete Welt wird ihm fremd sein.“ Der Blick auf das groteske Mischwesen – halb Giraffe, halb Zebra, das vom Publikum ausgelacht wird, ist nicht so unterkühlt, wie man es von diesem Autor kennt; aber aller Empathie zum Trotz führt kein Weg zurück. Grünbeins Zoo-Gedichte sind gelungene Naturlyrik für eine Zeit, die weiß: sie lebt nach der Natur. Wer will, darf sich aber auch noch andere – politisch-historische Bezüge – dabei denken, wenn es von dem seltsamen Tier heißt: „Noch so ein Wiederkäuer verlorener Zeiten, ein Posten / Am zoologischen Wegrand aufgestellt, wie zur Warnung / Vor der Exotik von Hinterbliebenen, einsam in ihrer Art.“

Wenn nun das Hiersein in der Regel gar nicht herrlich ist, der Weg zurück aber versperrt – wie soll dann das lyrische Ich die verbleibenden Freiräume ausloten? Grünbein formuliert selbst die Maxime, der seine besten Arbeiten folgen: „Denk von den Wundrändern her, vom Veto / der Eingeweide, vom Schweigen / Der Schädelnähte.“ Man sollte ihn gleich dort besuchen, wo er mit diesem Vorsatz Ernst macht: vor allem in den 39 Teilen der „Variation auf kein Thema“, und dort vor allem in jenen Passagen, die den Dichter als Mikrohistoriker der eigenen Kindheit zeigen. Das „Veto der Eingeweide“ zeigt sich hier als trefflicher Schutz gegen das Vergessen von Unordnung und frühem Leid: „Verwaschen die Farben, die rosa / Idyllen aus Lammfell. Das war's: der Geruch / Erbrochener Milch, das Komplott / Großer Körper, die dich fütternd erdrückten / Ganze Wolken von Hysterie / In denen man laufen lernte und sich zu wehrn.“

Durs Grünbein hat hier eine Reihe von Notaten zusammengestellt, die durch schlichte Genauigkeit bezaubern; sogar die einvernehmende, suggestive Verwendung der zweiten Person läßt der Leser sich da gerne gefallen. Man ist dabei, man springt hinein, man spielt mit, ganz gleich, ob es sich nun gerade um den beiläufigen, begehrlichen Blick auf „eine Falte, ein Büschel Flimmerhaar“ handelt, um den Moment, in dem du die falsche Toilettentür benutzt und dich für einen Moment „in verbotne Zonen, vor Wände, markiert / Mit den Zoten der Gegenseite“ gelockt fühlst, oder um das Gefühl von Peinlichkeit und Befremden, die du beim Betrachten alter Photos verspürst: „Wie dein Lächeln sich auflöst / Beim Betrachten nach Jahren. Befangen / Vom Unbekannten, fixiert auf / Längst Fernes, weist dein Blick dich zurück.“ Oder dies: „Mannsdicke Rohre, in die du als Kind dich / Im Versteckspiel verkrochst / Waren im nächsten Traum riesige Tunnel / Bunker und Tropfsteinhöhlen / In denen du Urmensch warst oder Soldat... / Doch vor allem erwachsen, voraus / diesen schmächtigen Fesseln, der Ohnmacht / Von Geschlecht und Statur.“ Das ist schon sehrsehr schön gesagt und könnte – seltener Wunsch – meinetwegen noch lange so weitergehen.

Die Nüchternheit der Alltagsszenen wird nur von wenigen Momenten unterbrochen, in denen Grünbein scheinbar das Zutrauen zur eigenen Devise verlassen hat. Das rächt sich sofort: wo eben noch die schönste poetische Sachlichkeit waltete, haben sich mir nichts, dir nichts metaphorische Geschwätzigkeit und lautliche Prahlerei in die Zeilen gestohlen. Da heißt es etwa: „Fröstelnd unter den Masken des Wissens / Von Unerhörtem verstört / Traumlos am Tag unter zynischen Uhren“ usf. Ein andermal ist die Rede von „Indifferenz, die totale, Qualen verschalend und Male / Wie sie die Herkunft verschreibt“ („Mensch ohne Großhirn“). Aber das sind seltene Ausreißer. Grünbein ist kein Schwätzer.

Es war schon von seinem kalten Blick die Rede. Wie er so gebannt und genau hinschaut, das erinnert an die unschuldige Grausamkeit von kleinen Jungen, die mit gefangenen Fischen experimentieren. In einem der schönsten Stücke des Bandes, in dem dreiteiligen Gedicht „Trigeminus“, ist denn auch vom Schwimmen in „eisgrauen Baggerseen“ die Rede, von den umheimlichen Entdeckungen beim Tauchen, mit denen man sich wechselseitig Furcht einjagt: „Geschichten vom kalten Stern / Von Traktoren, auf denen Skelette saßen, am Grund nachts / Wo die Erde gefror und Liebespaare beim Baden ertranken. // Denn alles war um den einen Stachel zentriert, diesen Dorn / Zum Aufspießen der Wolken, den uns ins Fleisch trieb / Klein, auf dem Handteller zappelnd, der erste mutierte Fisch.“ Diesen Jungensblick findet man übrigens auch in dem langen siebenteiligen Liebesgedicht „Im Zweieck“, das besonders Leserinnen anempfohlen sei: „Ein wenig Druck auf empfindliche Stellen, und es brach Schweiß aus.“ Das hat, auch wenn Grünbein es möglicherweise ganz ernst meint, durchaus etwas Komisches.

Und was ist eigentlich mit der Stadt Berlin, in der Durs Grünbein – „gezeugt im verwunschenen Teil eines Landes / Mit Grenzen nach Innen“, geboren in Dresden – seit vielen Jahren lebt? Sie ist immer noch, wie immer schon, im Übergang, unentschieden zwischen Größenwahn und Regressionswunsch. „Eben noch Steilwände, undurchdringlich / Sind die ragenden Mauern gefallen. Im Dunkel / Kehrt Steppe zurück in die Stadt, die Legende / Vom Leben in Horden, an offenen Feuerstellen und ohne Schutz. [...] Vergessen die Schmerzen des Aufrechtgehens, die kleinen Lügen / Von Couch und Telephon, hinter farbigen Cocktails / Versteckspiel. Intrigen, wie wenig das zählt / Vor den sich schließenden Oberflächen einer Stadt“ („Späte Erklärung“). Wenn schon diese Schließung, wie es scheint, beschlossene Sache ist, bleibt immerhin ein Trost, daß Durs Grünbein weiter hinschaut und uns beschreibt, was sich in den verbleibenden Ritzen verfängt. Das liegt ihm sehr; er holt sogar noch Glanz aus den „wie Stecknadeln glitzernden Augen / Einer plattgefahrenen grauen Maus“.

Durs Grünbein: „Falten und Fallen“. Gedichte, Suhrkamp Verlag, 126 Seiten, geb., 28 DM

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