: Das unbeachtete Mittelmeersyndrom
Psychosomatische Krankheit und Migration: Verständnis für die Lebensgeschichte und die unbewußten Zeichen ist genauso notwendig wie die konkrete Hilfe ■ Von Prof. Dr. Peter Möhring
Daß Menschen, die sich ungewollt in der Fremde aufhalten, krank machenden Belastungen ausgesetzt sind, ist sicher seit Jahrtausenden bekannt. Kriegsgefangene, verschleppte Sklaven, in die Fremde verheiratete Bräute mußten nicht nur leiden, sondern waren auch gefährdet, in der Fremde zu erkranken und zu sterben. Die „Heimwehkrankheit“, die Menschen in der Fremde befällt, wurde schon im 17. Jahrhundert und in der Folge immer wieder beschrieben. Sie befalle vor allem Menschen, die sich gegen ihren Willen in der Fremde aufhielten, und könne sogar tödlichen Ausgang haben, wurde berichtet. Daß Menschen, die sich freiwillig aus dem Heimatland begeben hatten, weniger krankheitsanfällig waren, war ebenfalls bekannt.
Selbstverständlich ist der Migrationsprozeß von vielen Faktoren abhängig, die sowohl die Seite des Migranten als auch die des Gastlandes betreffen. Da ist zunächst die kulturelle Distanz zwischen den Ländern zu nennen. Auch die Flexibilität und Anpassungsbereitschaft der Migranten spielt eine Rolle, ihr Bildungsstand (sozial höhergestellten Personen fällt die Migration in der Regel leichter) und die wichtige Frage, aus welchen Gründen sie gekommen sind. Kamen sie freiwillig als Arbeitsemigranten, als Flüchtlinge wegen eines Krieges oder wegen lebensbedrohlicher Umstände? Waren sie inhaftiert, wurden sie gefoltert? Wen und was mußten sie zurücklassen, und haben sie in unserem Land Freunde? Können sie zurück, oder erwartet sie dort Verfolgung oder Tod?
Seitens des Gastlandes kommt es darauf an, ob Bereitschaft besteht, Fremde aufzunehmen, wie xenophil oder xenophob seine Bevölkerung ist, ob es auf Traditionen der Integration von ausländischen Zuwanderern zurückblicken kann oder ob Angst vor „Überfremdung“, wirtschaftlichen Nachteilen oder Verlust der eigenen ethnischen Identität die Haltung gegenüber dem Fremden dominiert. Was zum Beispiel die Bereitstellung von bedürfnisgerechten Einrichtungen für Ausländer im Gesundheitsbereich betrifft, kann in Deutschland nicht von Fremdenfreundlichkeit gesprochen werden. Die medizinischen und psychosozialen Versorgungsangebote für Ausländer unterschreiten bei weitem deren prozentualen Anteil an der Bevölkerung.
Dabei ist seit langem bekannt, daß Migration häufig Gesundheitsprobleme nach sich zieht. Diese äußern sich häufig als psychosomatische Störungen. In dieser Form weisen sie auf die Verwobenheit des Leidens mit der gesellschaftlichen Situation hin, häufig allerdings, ohne daß dies von ihnen selbst und ihren Behandlern in angemessener Form wahrgenommen wird. Wahrgenommen wird von den deutschen Ärzten schon, daß die sprachlichen und kulturellen Differenzen diagnostische und therapeutische Möglichkeiten einschränken, aber häufig erschöpfen sich die Konsequenzen in Diagnosen wie „Morbus bosporus“ oder „Mittelmeersyndrom“.
Die Psychoanalyse bietet einen geeigneten Rahmen für das Verständnis der psychosomatischen Symptombildungen, besonders wenn sie als Ethnopsychoanalyse die bewußten und unbewußten Anteilen in der psychischen Struktur zu der umgebenden Gesellschaft und der Kultur in Beziehung setzt. Ein Grundgedanke dabei ist, daß Kulturen und Gesellschaften nach ihnen eigenen Regeln und mit jeweils eigenen Mitteln, zum Beispiel Ritualen, Unbewußtheit erzeugen, um den Bestand der Gesellschaft zu sichern. Dabei werden von den Individuen im Verlauf der Sozialisation Anpassungsleistungen verlangt, an denen sie allerdings unter schlechten familiären und sozialen Bedingungen scheitern können. Dann kommt es zur Störung, die sich auf unterschiedliche Weisen – neurotisch, psychosomatisch, als Entwicklung von Sucht oder Delinquenz, aber auch psychotisch – äußern kann. Beim Verlassen des eigenen Kulturraums muß zudem auf einen Teil der in den gewohnten Beziehungen und Kommunikationsformen enthaltenen Befriedigungen und auf die durch sie vermittelte Sicherheit verzichtet werden. So wird das Erkrankungsrisiko erhöht. Was will ein Migrant durch seine Symptome ausdrücken? Zur Beantwortung dieser Frage ist es nützlich, von der fremden Kultur einiges zu wissen. In der konkreten Begegnung muß man das kulturelle Wissen als Hintergrundwissen bereithalten und dabei frei genug bleiben, das jeweils Einmalige der in jedem Fall vorliegenden Bedingungen zu entdecken.
Es gibt einige Ursachen für das Auftauchen von psychosomatischen Krankheitssymptomen bei Migranten, die ich kurz nennen will. Als Reaktion auf den Verlust kultureller Elemente, auf die man sonst zum Ausdruck von Störungen psychosozialer Befindlichkeit im Heimatland zurückgreifen konnte, kommt es zu einer „Improvisation“ mit den Ausdrucksmitteln des Körpers.
Als Ausdrucksmittel in einer Situation, in der die Sprache als Medium zur Kommunikation wichtiger persönlicher Botschaften nicht oder nicht so wie gewohnt zur Verfügung steht, liegt ein Rückzug auf den Körper ebenfalls nahe.
Schwere psychosomatische Erkrankungen gehen mit Zerstörungen von Körpergewebe einher, etwa in der Form von Magengeschwüren. Sie können als Ausdruck des Versagens der Anpassungsmechanismen und als körperliche Erschöpfungsreaktion im Fall des Mißlingens der individuellen psychischen Anpassung an die neue Situation verstanden werden.
Ein (verfremdetes) Beispiel einer Migrantenfamilie soll die schwierigen Bedingungen der Migration nahebringen.
Eine junge iranische Familie mit zwei Töchtern, acht und zehn Jahre alt, hatte Asyl beantragt, weil der Mann, ein Offizier, sich durch unbedachte Äußerungen als Sozialist zu erkennen gegeben hatte und daraufhin politische Verfolgung fürchten mußte. So floh er mit seiner Familie aus dem Land. Die Familie schien eher westlich orientiert. Die Frau war von ihrem Vater, einem höheren Staatsbeamten, gefördert worden. Sie war auch in guter Position berufstätig gewesen. Zirka ein Jahr nachdem sie nach Deutschland gekommen war, wurde die Frau in eine psychosomatische Poliklinik überwiesen, weil sie einige Monate nach der Ausreise unter vielen Beschwerden zu leiden begonnen hatte. Zu ihren permanenten Unterleibsschmerzen kamen schließlich Magenbeschwerden hinzu. Wegen depressiver Symptome hatte sie Psychopharmaka verschrieben bekommen, und bald bestand die Gefahr, sie könne davon abhängig werden. Schließlich bestand der Verdacht auf Magengeschwüre.
Hier ist eine Stufenfolge von funktionellen Beschwerden (Unterleibsschmerzen, Schwindel) als erster Stufe über psychopathologische Symptome (Depression, Abhängigkeitsgefahr) als zweite Stufe der Erkrankung bis hin zu einer Organbeschädigung (Gastritis), Ulcus-Verdacht) zu verfolgen, die zeigt, daß bei Fortbestehen der krank machenden Situation sich die Erkrankung verstärkt.
Was war geschehen? Die Familie war in zwei Zimmern in einem Haus mit verschiedenen Familien untergebracht worden, die Asyl beantragt hatten. Alle litten unter der Situation, Küche und Waschräume mit Fremden teilen zu müssen. Die Frau schien darüber zu verzweifeln. Sie hatte eine großzügige Wohnung in ihrer Heimat bewohnt und setzte alles daran, in eine andere Wohnung zu kommen. Die beengte Wohnsituation empfand sie als ihr Elend. Voller Angst erzählte sie, daß in dem Haus vor ein paar Monaten eine Asylantin gestorben war. In der Fremde zu sterben, nachdem sie alles verloren hatte, schien auch ihre Angst zu sein. Nicht nur die Wohnung, auch ihr Schicksal mit anderen teilen zu müssen und darin ihr eigenes sehen zu müssen schien ihr unerträglich. Daß sie aus Gründen der Zuteilung der Asylanten zu verschiedenen Gemeinden nicht mit Verwandten zusammenleben konnte, die ebenfalls Asyl beantragt hatten, war für sie demütigend. Insofern reagierte sie konsequent und sogar kämpferisch. Sie schien durchaus durchsetzungsfähig, aber es war dem psychotherapeutischen Untersucher trotz entsprechenden Versuchs nicht möglich, den greifbar nahe in der Luft liegenden Konflikt des Ehepaars zu thematisieren. Die Vorstellung einer Konfliktbearbeitung erwies sich als zu westlich-ethnozentrisch gedacht. Ein Aufbegehren der Frau gegen den Mann war besonders in der Fremde, wo das kulturelle Stereotyp der Geschlechterbeziehungen wieder verstärkt worden war, undenkbar geworden. Das paradoxe an dieser Situation war, daß es der Frau in ihrem Heimatland sehr gut gelungen war, sich gegen das traditionelle Stereotyp eine Position zu schaffen.In der Fremde wurde dies wieder ausgelöscht. Daß dies geschah, lag einerseits daran, daß sie wesentliche Pfeiler, die ihre Rolle trugen, verloren hatte, zum anderen daran, daß in der Fremde das traditionelle kulturelle Sterotyp der Geschlechterbeziehungen wie eine Schutzmauer gegen die Bedrohung verstärkt worden war. So war die Frau darauf zurückgeworfen worden, einen Emanzipationskonflikt auf regressive Weise neu in ihrem Körper zu beleben: Alles in ihr lehnte sich auf, alles rief: Die Migration hat mich krank gemacht.
Die Geschichte beinhaltet einige untypische Elemente. So ist es unüblich, solche Patienten psychosomatischen Einrichtungen vorzustellen. Auch konnte man der Familie helfen, eine Wohnung zu bekommen. Für die Frau fand sich ein Psychotherapeut, der ihre Sprache verstand, was ebenfalls ungewöhnlich ist. So konnte schließlich erreicht werden, daß sie nach einigen Monaten keine körperlichen und depressiven Symptome mehr zeigte; sie fühlte sich wohl.
Der Mehrzahl der Migranten allerdings kann eine adäquate Versorgung nicht geboten werden. Die Geschichte zeigt jedoch, was helfen könnte: Verständnis für die Lebensgeschichte und die unbewußten Seiten der Krankengeschichte, bessere Unterbringung, Anerkenntnis der psychischen Dimension des Leidens. Sie zeigt auch, daß man mit westlichen Behandlungsvorstellungen danebenliegen kann. Und sie zeigt, daß das Klischee von den ungebildeten traditionalistischen Migranten, die mit der westlichen Kultur nichts anzufangen wissen, eben nur ein Klischee ist.
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