Rußland plant die Inflation

Zum ersten Mal in ihrer Geschichte kann die Duma einen halbwegs seriösen Staatshaushalt beraten / Der Weltbank-Chef hört zu  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Der Deputierte Alexander Potschinok freute sich. Der stellvertretende Vorsitzende des Budget-Kommitees der Duma konnte am 9. März den Regierungsentwurf eines russischen Staatsbudgets für 1994 vorstellen. Nun wird er seinen Hut wohl doch nicht aufessen müssen. Das nämlich hatte er versprochen, wenn das Budget-Defizit 50 Trillionen Rubel betrage.

Für solche Zahlen interessiert sich auch der Weltbank-Chef Michael Camdessus, der noch bis kommenden Dienstag in Moskau Gespräche über Rußlands Finanzen führt. Das Loch im Staatshaushalt übertrifft mit 61,5 Trillionen Rubel Potschinoks Wettsumme nur wenig, es entspricht etwa 36 Billionen Dollar oder 10,2 Prozent des russischen Bruttosozialprodukts. Den erhofften Einnahmen von 120.700,5 Trillionen Rubeln stehen Ausgaben von 182.195,9 Trillionen gegenüber.

Dafür wird die Geldpresse wieder fleißig rattern. Während vor einigen Wochen Präsident Jelzin noch die Inflationsrate auf monatlich drei bis vier Prozent begrenzen wollte, nimmt man jetzt offiziell elf Prozent in Kauf, um die größte Unzufriedenheit in den Interessengruppen zu dämpfen. Lauter Protest hat jetzt noch eine Chance. Denn ob der erste halbwegs seriös aussehende Budgetentwurf in der jüngeren russischen Geschichte verwirklicht wird, das wird sich frühestens im Juni zeigen. Schneller mahlen die Mühlen der Duma nun mal nicht.

Der Generaldirektor der staatlichen Rundfunk- und Fernsehanstalt, Anatlij Lyssenko, setzt auf die Sucht nach der Glotze. Im vorliegenden Haushalt soll er nur ein Viertel der Summe bekommen, die er gefordert hatte. „Dann wird's eben nur noch vier Stunden und 20 Minuten Fernsehen am Tag geben“, verkündete er. Noch kräftiger trumpften die Vertreter der Armee auf. Verteidigungsminister Andrej Kokoschkin erklärte, daß angesichts ihm überlassenen 37,1 Trillionen Rubel die Verteidigungsbereitschaft nicht mehr garantiert sei: „Dieses Vorgehen wird ganz klar zum Verlust der Kontrolle über die Streitkräfte führen.“ Als – gelinde gesagt – Ungereimtheit kann man es schon bezeichnen, wenn der Staat für das laufende Jahr für 28,3 Trillionen Rubel Bestellungen an die Militärindustrie vergeben hat, andererseits im Budget für diesen Posten aber nur 5,5 Trillionen vorsieht. 3.000 Unternehmen müßten damit geschlossen werden, meint Kokoschkin. Die staatlichen Ausgaben für die Armee wurden bereits in den vergangenen Jahren sehr stark gekürzt, ihr geplanter Anteil bleibt allerdings mit 20 Prozent des Budgets fast konstant.

Wissenschaft und Forschung gehen leer aus

Nur 2,8 Prozent des Staatshaushaltes sollen für Wissenschaft und Forschung zur Verfügung stehen. Dozenten und Institutsangestellte gehören zu den Schlechtbezahltesten im Lande. „Die russische Wissenschaft steht vor dem Abgrund“, unter dieser Losung demonstrierten sie auf den Straßen Moskaus. Nicht einmal das ihnen offiziell Zugebilligte haben sie bisher erhalten. „Der Ministerrat spielt mit ihnen Katz und Maus“, schrieb die Iswestija. Seit dem 1. April vorigen Jahres ist der Staat der Akademie der Wissenschaften 105,8 Milliarden Rubel schuldig geblieben. Das ist zwar ein Extrem-, aber kein Einzelfall: die insgesamt nicht erfüllten Vorjahrsverpflichtungen Rußlands betragen 8,5 Trillionen Rubel.

Dieselbe Situation wird sich wieder einstellen, wenn die Regierung das neue schwarze Loch im Budget nicht im Laufe des Jahres zu stopfen vermag. Offiziell hofft man auf 3.529 Milliarden Gewinn aus Wertpapierspekulationen, 19.339 Milliarden aus Außenanleihen, über 37.000 Milliarden an Krediten der Zentralbank und auf 1.580 Milliarden „übrige Mittel“ als Ausgleich.

Bei alledem geht der Ministerrat von einem mittleren Kurs von 3.500 Rubel pro Dollar aus. Die RußländerInnen können jetzt schon damit rechnen, daß sie Ende des Jahres vier- bis fünftausend „Holzrubelchen“ für eine grüne Dollarnote über den Tisch schieben müssen. „Das Fortbestehen der extrem unstabilen finanziellen Situation, wie wir sie Ende letzten Jahres hatten, ist noch das Beste, worauf wir hoffen können“, mäkelt Ex-Premier Jegor Gaidar und kündigt an, daß seine Fraktion den Budgetentwurf nicht unterstützen werde. Er hält die Ausgabenkürzungen für unzureichend, da sich die Einnahmen noch stärker vermindern werden, falls die Regierung ebenfalls angekündigte Steuersenkungen durchziehen wolle. Gaidar wies warnend darauf hin, daß der Anteil der Staatsausgaben in diesem Jahr zum ersten Mal wieder wachsen soll, seit Rußland sich auf seinen Weg zur Marktwirtschaft gemacht hat. Er sprach von der „gefährlichen Illusion, das Hauptproblem in Rußland bestünde in der zu geringen Macht der Regierungsbeamten“ – Präsident Jelzin und Ministerpräsident Tschernomyrdin haben die Stärkung von Staat und Regierung in letzter Zeit zum Haupthema ihrer Auftritte gemacht.

Potschinoks Chef Nikolaj Gontscharow, erster Vorsitzender der parlamentarischen Budget-Kommission, versucht Zeit zu gewinnen. Er forderte eine Kommission von Experten, Vertretern der Exekutive und der Legislative. Das Gremium solle ein provisorisches Finanzkonzept bis zum Inkrafttreten des eigentlichen Budgets vorlegen. Gleichzeitig könnten Mechanismen zur effektiven Erstellung von Budgets im allgemeinen erarbeitet und schon mal der 1995er Haushalt in Angriff genommen werden. So, hofft Gontscharow, entkäme Rußland dem Teufelskreis, daß sein Staatsbudget immer erst nach Ablauf des Jahres verabschiedet wird, für das es gelten sollte.