Ameisen im Amüsierbetrieb

Artifizielle Landschaften im Großformat, die das Kreatürliche aus der Reserve locken, eine Anthropologie des Technischen, nicht frei von Ironie: Andreas Gurskys „Photographien“ in den Hamburger Deichtorhallen  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Der romantische Blick versieht die Natur mit der Idee einer Ganzheit und macht sie so anderen Ganzheiten gleich. Unprätentiös in der Aufsicht und trotzdem mit der Idee der Übersicht unterlegt: eine heimliche Anthropologie, die das Menschenbildnis aussparen kann – denn die Rolle des Betrachters überhöht und verklärt. In dieser Tradition sind die Fotografien von Andreas Gursky zu lesen, der wie Thomas Ruff und Candida Höfer ein Schüler Bernd Bechers ist. Aber schon der Schritt zur Farbfotografie, den fast alle Becher-Schüler gemacht haben, bedeutet eine Distanzierung vom Kargen, vom Buchhalterischen, vom grafischen Gewerbe. Farbige Fotografie mißt sich an der Geschichte der Malerei auf der einen, an Tempo und Technizität des Videos auf der anderen Seite. Wehe ihr, wenn ihr Gegenstand nicht komplex ist.

Landschaftsbild und Industriefotografie

Das kann Gursky für sich in Anspruch nehmen. Zwischen der humanistisch legitimierten und formal einschläfernden Fotografie Cartier-Bressons auf der einen und den illustren Film-„Beauties“ auf der anderen Seite behauptet sich Gurskys Fotografie: Große Prints mit weißen Rändern in betont schlichten Holzrahmen, die in der größeren der Hamburger Deichtorhallen als Mittelstraße zwischen die populistischen Ausstellungen gehängt sind. Aber auch mit den aufwendig gebauten Bildmontagen Jeff Walls in der anderen Halle kann Gurskys straight photography sich messen.

Im schwierigen Feld zwischen Landschaftsbild und Industriefotografie hat Andreas Gursky, der im nächsten Jahr vierzig wird, ein eigenes Sujet etabliert, eine seriell gedachte, aber nicht seriell fotografierte Arbeit. Jedes Bild mißt den Raum neu aus, in dem sich Gurskys Interessen doppeln, überschneiden und gelegentlich auslöschen. Das am meisten geordnete zeigt ein familiäres Freibad im Rheinland, in dessen Aufsicht die kleinen glänzenden Figuren in einer Choreographie von Stereotypen erstarrt sind, innerhalb des Beckens (das wie ein digitales Komma hellblau quer im Bild liegt) und außerhalb. Das Badmotiv, in der Ausstellung mehrfach wiederholt, ist aber nur der einfachste Schlüssel zu Gurskys Blick (für die Betrachter und wahrscheinlich auch für den Fotografen selbst) – eine artifizielle Landschaft, die das Kreatürliche aus der Reserve lockt.

Die auffälligsten Ordnungsmuster in diesen Fotografien, die wegen ihrer Größe und hohen technischen Qualität auch im einzelnen entzifferbar sind, folgen Gurskys Hang zur klaren Gliederung der Fläche im Verhältnis zu den Details, die sie birgt. Deshalb sind gerade jene seiner Fotografien die interessantesten, in denen die Menschen eher (schon) Tüpfelchen sind als (noch) Figuren. Zum Beispiel die „Neujahrsschwimmer“ (1988), die das ärmliche Pastell des Rheinufers beleben wie ein ratloser Schwarm roter, blauer, schwarzer und weißer Disney-Reiher; oder die feinen lotrechten Striche, die in der glänzenden Achse einer penibel geordneten Kulturlandschaft jenem Punkt zustreben, an dessen mutmaßlicher Spitze das Kameraauge schwebt: „Theben West“ (1993), ein gut mannshohes Hochformat, dessen Oberfläche die gleiche schillernde Milchigkeit exponiert wie viele von Gurskys Fotografien. Wie Ernst und Hilla Becher interessiert ihn nicht das Licht als Quelle, sondern als Qualität der Dinge. Der Himmel ist immer bewölkt, eben noch als dünne Haut des Kosmos sichtbar.

Gursky liebt das Filigrane, und wenn ihm nicht alles durcheinanderläuft wie an der Börse in New York oder beim Autosalon in Paris, hat sein tektonischer Blick etwas Zwingendes. Auf einem Sportfeld, von bläulichen Stahlträgern gerahmt und mit feinen Netzen fast bildfüllend überzogen, ist Hagel niedergegangen; doch falsch: In einem zweistöckigen, zum Betrachter hin offenen Riegel am Ende des Platzes sieht man in fast drei Dutzend offenen Parzellen Golfspieler in typischen Haltungen. In „Osaka“ (1990) erweisen sich die Japaner einmal mehr als die Geduldameisen des Amüsierbetriebs.

Der Schauplatz als Ornament der Masse

Der zum Käfig mutierte Golfplatz, das Wasserfahrzeug längs der Niagarafälle als Spielzeug der mächtigen Natur: das ist Gurskys Anthropologie des Technischen, ein Standpunkt nicht frei von Ironie. Der Schauplatz selbst als Ornament der Masse. Die Sinnbildhaftigkeit, eigentlich ein Stachel im Fleisch lebendiger Fotografie, wirkt bei Gursky überzeugend. Daß die Formel meist (bei weitem nicht immer) funktioniert, spricht für die „Visualität“ des Sujets; es ist nicht ein illustriertes Statement, was man von einem beträchtlichen Teil gängiger Dokumentarfotografie leider sagen muß. Die Formel wird schwächer, wenn es in den Bildern keinen Horizont mehr gibt, wie bei den Industriefotografien, die im Siemens Foto Projekt entstanden sind. Innerhalb des Projekts waren sie in ihrer Schlichtheit überzeugend, im Werkkontext fallen sie ab wie andere Fotografien von Binnenräumen auch. Gurskys Blick ist eben ein romantischer.

Inwieweit dieser Blick von der Idee der „Landschaft“ überhaupt zu lösen ist, scheint auch den Fotografen zu beschäftigen, was er in zwei Arbeiten dokumentiert. Die eine zeigt einen hellen, einfarbigen Teppich in der bekannten Aufsicht, also einer undramatischen perspektivischen Flucht; die andere einen räumlich nicht mehr zu entschlüsselnden orangenen Lichtkreis, der sich nach oben hin dunkel schließt. Die „reine Landschaft“ als Artefakt, das „reine Licht“ als Gegenbild zur Ordnung des Raums. Eigenartigerweise kann man an diesen Bildern vorübergehen, ohne sie auch nur zu bemerken.

Das Schwierigste an nicht angewandter Fotografie ist immer die Position des Autors. Bei Gursky spürt man bisweilen den Drang, sein Sujet auszuquetschen wie eine Zitrone, die „Stil“ hervorbringt. Umgeben von einem halben Dutzend erfolgreicher Schüler gleicher Herkunft, ist der Bereich, in dem man sich behaupten kann, offensichtlich eher schmal. Die Kunst der Übertreibung ist der Schlüssel zur Distinktion. Daß Gursky die Grenzen seines Sujets sichtbar macht (Teppich), ist ein gutes Zeichen. Sollte die Hamburger Ausstellung eine erste Retrospektive sein, als die sie nicht deklariert ist, erscheint die tatsächliche Anzahl von Meisterwerken schmaler, als der (übrigens etwas blaß wirkende) Katalog ausgelegt ist.

Andreas Gursky: „Photographien“. Deichtorhallen Hamburg, bis zum 10. April. Katalog bei Schirmer/Mosel, Hrsg. Zdenek Felix, 49,80 DM.