piwik no script img

„Plätzchen und Kakao standen bereit“

Vor dem Krefelder Landgericht muß sich ein pädophiler Pfarrer wegen sexuellen Mißbrauchs eines Neunjährigen verantworten / Tat „ohne Zweifel“ erwiesen, doch der Pfaffe leugnet  ■ Aus Krefeld Bernd Müllender

Vielleicht war das allerletzte gesprochene Wort nach neun langen Verhandlungstagen der Schlüsselbegriff in diesem ebenso erschütternden wie widerlichen Fall. „Herr Vorsitzender“, bat der Angeklagte in seinem Schlußwort, „befreien Sie mich von diesem Alptraum!“ Der Angeklagte ist der heute 54jährige katholische Geistliche Hans-Dieter Iven. In der Krefelder Josefskirche galt er seit seiner Amtsübernahme 1983 als freundlicher, überaus seriös wirkender Mann, engagiert, zugänglich, gut aussehend. Diffuse Gerüchte, die ihn nach Krefeld begleitet hatten, wollte niemand glauben. Eine Mutter heute: „Bei der Pfarreinführung hörte ich den Hinweis ,Haltet eure Jungs fest‘. Aber das war doch undenkbar...“

Iven ist vor der Großen Strafkammer des Krefelder Landgerichts angeklagt, den zur Tatzeit neunjährigen Martin, einen Enkel des Küsters, seit 1990 zwei Jahre lang in seiner Pfarrwohnung sexuell mißbraucht zu haben. Bei der ersten Kontaktaufnahme standen, so der Staatsanwalt, „Plätzchen und Kakao bereit“, dann legte Iven Kinderpornos in seinen Videorecorder, es folgten Berührungen, Streicheleien, Küsse. Martin mußte sich für Fotos und Videofilme nackt ausziehen. Der Pfarrer drohte: „Wenn du zu Hause was erzählst oder nicht wiederkommst, wird deine Mutter krank, dein Bruder liebt dich nicht mehr, ihr fliegt aus eurer Wohnung.“ Später zwang der Angeklagte den eingeschüchterten Jungen zu Anal- und Oralverkehr. Und gab ihm auch noch die Schuld: „Du hast etwas an dir, was Männer anmacht.“

All diese Vorfälle seien, so der Staatsanwalt, „ohne jeden vernünftigen Zweifel erwiesen“. Iven habe das Vertrauen des Jungen und seine Autorität als Geistlicher „aufs schändlichste ausgenutzt“. Der Pfarrer indes leugnet vehement. Und die Anklage basiert allein auf den Aussagen eines einzigen Zeugen: des gequälten Opfers. Der heute Zwölfjährige hatte sich Ende 1992 zögerlich seiner Mutter zu offenbaren begonnen. Es folgte das in solchen Fällen unvermeidliche Martyrium. Aussagen vor der Polizei, vor einer Gutachterin, die ihm „absolute Glaubwürdigkeit“, „keinerlei Belastungseifer“ und „in sich stimmig wiedergegebene Aussagen“ attestierte. Schließlich folgten, unter Ausschluß der Öffentlichkeit, Martins qualvolle Aussagen vor Gericht. „Ich konnte doch nicht nein sagen, das war doch der Pfarrer.“ Seit zwei Jahren leidet Martin unter Kopf- und Bauchschmerzen, Schuldgefühlen sowie erheblichen Schlaf- und Konzentrationsstörungen. Zum Erlebten: „Das frißt wie Säure in mir.“ Verweint, schluchzend, nach Luft ringend verließ er den Gerichtssaal. Warum Iven dem Jungen all dies nicht durch ein Geständnis erspart habe, fragt der Staatsanwalt empört. Iven leugnet seine „pädophilen Neigungen“ nicht, gibt ähnliche sexuelle Kontakte mit zwei 14jährigen Meßdienern und einem jungen Skin zu. Doch diese Vorfälle sind verjährt – „eine durchsichtig taktische Aussage also“, so die Anklage, „um einen kooperativen Eindruck zu machen“. Iven jedoch sagt, und Gott sei sein Zeuge, alles sei ein Alptraum sei: „Dieser Martin war niemals in meiner Wohnung.“

Sein Verteidiger versucht, das Attest der Gutachterin zu erschüttern, und verweist auf einzelne Ungereimtheiten in Martins Aussagen. Könne es nicht sein, daß alles Martins „blühender Phantasie“ entspringe, bei ihm „frühkindliche Gehirnschäden“ vorlägen, ob er vielleicht Erlebnisse mit einem anderen Mann hatte und deshalb „eine Übertragung“ vorliege oder alles gar dem Wunschdenken des Jungen entspringen könne. Forderung also: Freispruch. Und fügt zynischerweise noch hinzu: Wenn das Gericht seinen Mandanten dennoch verurteilen wolle, dürfe nicht erschwerend auf Gewaltanwendung erkannt werden. Denn „außer der Bemerkung ,Aua!‘“ sei doch auch beim Analverkehr keinerlei Gewalt im Spiel gewesen.

Iven, kein Wunder, wirkt im Prozeß bedrückt. Er sitzt, den Kopf meist tief gesenkt. Nur wenn sein Verteidiger spricht, weicht die rote Farbe aus seinem Gesicht. „Egal, wie das Urteil lautet“, sagt der Pfarrer, „mein Leben ist zerstört, ich bin kaputtgemacht.“

Er habe, gibt Iven zu Protokoll, sogar überlegt, ein falsches Geständnis abzulegen, um den Jungen zu schonen. Iven fragte seinen Bischof um Rat. Der riet dringend ab und verschaffte Iven statt dessen vorübergehend Deckung, indem er ihn umgehend von seinen seelsorgerischen Pflichten in der Gemeinde entband und in einem abgelegenen Kloster bei Aachen unterbrachte. Dort war er letzten August verhaftet worden, kistenweise hatte die Polizei pornographisches Material in seiner Klosterzelle gefunden und beschlagnahmt. Seitdem sitzt Iven in U-Haft. – Martins Anwältin, die Nebenklägerin, hat schon oft Mißbrauchsopfer vertreten. Erschüttert zeigte sie sich nach der Tatortbesichtigung. 58.000 (in Worten: achtundfünfzigtausend) Dias und Fotos mit einschlägigem Inhalt und mehrere hundert (Kinder-)Pornofilme waren in Ivens Wohnung beschlagnahmt worden. Ein Zimmer aber schockierte sie besonders: das der 1985 verstorbenen Mutter des Angeklagten. „Es war völlig unangetastet, eine Keksschachtel angebrochen, und auf dem Nachttisch stand noch die Medizin der Mutter.“ Die Szene habe gewirkt, „als erwarte Iven, daß seine Mutter bald wiederkommt“. Hitchcocks „Psycho“ mit einem katholischen Pfarrer als Anthony Perkins. – Heute wird das Urteil gesprochen: Ob dieses an Mangel an Beweisen überraschend Freispruch heißen wird, ob viereinhalb Jahre Knast, wie vom Staatsanwalt gefordert, oder gar mehr – „eine Befreiung vom Alptraum“ wird es für Iven nicht, für den kleinen Martin nicht und auch nicht für mögliche andere Opfer. Die Nebenklägerin: „Ich gehe fest davon aus, daß es in St. Josef noch viel mehr Kinder waren, die sich nur nicht trauen, sich zu offenbaren.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen