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Vertrauen hin, Konzept kaputt

■ Anzeigen gegen süchtige Gefangene wg. Drogenkonsum im Knast

Ein neuer Wind in der Justizvollzugsanstalt Vierlande – ein strammer Gegenwind, wie die Häftlinge meinen. Der neue Anstaltsleiter und ehemalige Amtsrichter Lutz von Selle sorgt mit Dienstantritt für Unruhe in den drogenfreien Stationen der Anstalt IX: Am 16. März verfügte er, daß alle Gefangenen, deren Urinkontrollen Spuren von Drogenkonsum aufweisen, bei der Staatsanwaltschaft wegen Verstosses gegen das Betäubungsmittelgesetz angezeigt werden müssen. „Damit wird das funktionierende Konzept kaputtgemacht“, protestieren die Insassen in einem Brief an den Hamburger Drogenbeauftragten.

Zwei drogenfreie Stationen mit 35 Plätzen wurden 1990 in der Anstalt IX in Neuengamme eingerichtet. Süchtige, die sich in Drogenabstinenz versuchen wollen, können sich dorthin freiwillig melden. Angeboten werden Gesprächsgruppen und Einzelbetreuung, auch tägliche Urinkontrollen gehören dazu. Diese wurden von den Insassen bislang akzeptiert. „Durch das Kontrollprogramm haben wir Rahmenbedingungen, die uns vor Rückfällen schützen“, so ein Gefangener, „und in den Mitarbeitern finden wir Ansprechpartner, die uns bei der Bewältigung von Krisen unterstützen.“ Ein System, das durch Vertrauen funktioniere. Ohne dies, betont der Drogenbeauftragte Horst Bossong, werde die Zielsetzung der Anstalt völlig infrage gestellt.

Und das Vertrauen ist erschüttert – die Insassen sind „fassungslos“ über die neue Verfügung. Ihre Ansprechpartner würden dadurch zu potentiellen Prozeßgegnern, statt gemeinsamer Problemgespräche drohten jetzt Hausstrafverfahren (wie Urlaubs- oder Ausgangssperre). Die Anstalt sei kein rechtsfreier Raum, so lautet von Selles Begründung, Drogenkonsum sei nun mal strafbar. Sein Vorgänger war weniger strikt, er hatte den Junkies Chancen zur Wiedergutmachung gegeben.

Ein juristisch komplizierter Grenzbereich, wie Justizbehördensprecher Jürgen Weinert gestern einräumen mußte. Die Behörde und von Selle stünden uneingeschränkt zu dem in Anstalt IX praktizierten Konzept. „Allerdings geht es um die Bestimmung der Grenze zwischen therapeutischen Bedürfnissen und dem gesetzlich noch Zulässigen.“ Anfang kommender Woche werde nun eine Expertenrunde eingehend darüber beraten, welche Konsequenzen in den Fällen zu ziehen seien, in denen bei freiwilligen Urinabgaben positive Befunde festgestellt wurden.

Sannah Koch

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