■ Dokumentation
: Brief an Voscherau

St. Pauli, Hafenstraße,

den 25.3. 94

Bürgermeister Voscherau!

[...] Nach 12 Jahren verschiedenster Verträge mit dem Senat wollen wir jetzt die Selbstverwaltung. Uns reicht die Geschichte von ungesicherten Verhältnissen mit Räumungsversuchen, Polizeiüberfällen, Prozeßlawinen und Knebelverträgen. Das Mietrecht ist immer dazu benutzt worden, uns zu maßregeln, kleinzukriegen und zu vertreiben. Unsere Energien und Ideen haben weitergehendere Ziele als die ständige Abwehr einer drohenden, existenzvernichtenden Räumung. Deswegen kann es keine neue Vertragskonstruktion mit dem Senat als Eigentümer geben. Das lehrt uns die Geschichte.

Wir wollen die Häuser nicht als Privatbesitz, das ist nicht unser Ding.

Wir wollen eine gesellschaftliche Trägerschaft für die Häuser. Wir wollen, daß die „Genossenschaft St. Pauli Hafenstraße“, in der sich mehr als 650 Menschen zusammengefunden haben, die Häuser und die dazwischen liegenden Freiflächen überschrieben bekommt, und wir wollen sie unter diesem Dach selber verwalten. [...]

Sie knüpfen unsere Zukunft an Bedingungen.

Eventuell sollen wir bleiben können, sagen Sie, wenn wir das staatlich verordnete Neubau- projekt der Hafenrand GmbH auf der Freifläche neben unseren Häusern hinnehmen. [...] Mit keiner Silbe erwähnen Sie, daß es schon seit länger als einem Jahr konkrete Alternativen zu Dirksens „sozialem Wohnungsbau vom Feinsten“, wie sie das nennen, gibt:

– ein Konzept, das über den Aspekt wirklich sozialen Wohnungsbaus hinaus auch Werkstätten und Gewerberäume sowie im Viertel dringend benötigte soziale Einrichtungen vorsieht, z.B. eine Kita, eine Stadtteilversammlungshalle mit Stadtteilvolksküche, ein öffentliches Bade- und Waschhaus, Sport- und Musikräume,

– ein Konzept, das von Anfang an auf ein offenes Einbeziehen aller ausgerichtet ist und das sich zur Diskussion und zur Verbesserung stellt,

– ein Konzept, das Leute aus allen sozialen Einrichtungen im Viertel miterarbeitet haben oder durch die Mitgliedschaft in der Genossenschaft unterstützen [...].

„Kein vernünftiger Nachbar kann etwas dagegen haben“, sagen Sie zum Dirksen-Projekt. Lauter fehlgeleitete Deppen? [...]

Warum sperren Sie sich einer inhaltlichen Diskussion unter Beteiligung aller Betroffenen über den Genossenschaftsvorschlag? [...]

Sie kennen sicher das Spottgedicht des großen Dichters dieser Stadt, Heinrich Heine: „Vertraut Eurem Magistrat / Der fromm und liebend schützt den Staat / Durch huldreich hochweises Walten: / Euch ziemt es stets das Maul zu halten.“

Es liegen Probleme und Fragen auf dem Tisch. Es werden sich ganz sicher sinnvolle und tragfähige Antworten finden lassen, wenn das denn auch von Ihrer Seite gewollt ist. Das gilt sowohl für unsere Zukunft in den Häusern als auch für die Frage einer sinnvollen Bebauung der Freifläche.

Wir halten das für einen realistischen Weg, sowohl unsere Lebensbedingungen als auch die im Stadtteil grundlegend zu verbessern.

Wir wollen deshalb mit Ihnen reden.

Die Entscheidung über das Bleiben von Menschen an einem Ort in einer Stadt in einem Land ist keine „Chefsache“ – sondern Sache der betroffenen Menschen selbst.

Wir grüßen das kurdische Volk!

Plenum der Bewohnerinnen

und Bewohner der Hafenstraße