: Und wieder sind die Eltern schuld
Experten fordern ein flächendeckendes Fehlbildungsregister / Nicht die Umwelt, sondern die Eltern gelten als Risikofaktoren / Schadstoffe und Belastungen fehlen in der Statistik ■ Von Klaus-Peter Görlitzer
In der zweiten März-Hälfte gab es in Presse, Funk und Fernsehen eine statistisch signifikante Häufung. Konjunktur hatte ein Thema, das sonst eher tabuisiert wird: „Angeborene Fehlbildungen“. Ausgelöst wurde das Medieninteresse von Monitor. Das WDR-Magazin berichtete, zwischen 1986 und 1992 seien an der deutschen Nordseeküste 20 Kinder ohne Hände zur Welt gekommen, davon allein sieben in der Industrieregion um Wilhelmshaven. Ob die Behinderungen auf Schadstoffe oder auf andere Einflüsse zurückzuführen sind, ist unbekannt.
Zwecks Aufdeckung der Ursachen machte sich Monitor dafür stark, ein sogenanntes „Fehlbildungsregister“ einzurichten; Humangenetiker und Kinderärzte, die in den folgenden Tagen in der Presse zitiert wurden, stellten dieselbe Forderung auf. Postwendend kündigte das Sozialministerium in Hannover an, Niedersachsen werde als erstes Bundesland eine entsprechende Datensammlung aufbauen. Das klingt beruhigend, weckt Hoffnungen und vermittelt den Eindruck politischer Konsequenz. Nur: Was ein solches Register konkret leistet, ob und wie damit überhaupt Ursachen ermittelt werden können – alle diese Fragen blieben in der öffentlichen Diskussion weitgehend ausgeblendet.
Dabei existiert schon ein Fehlbildungsregister, das der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer als Vorbild hinstellt. Wie es der Zufall so wollte, wurde es am Tag nach dem Monitor-Bericht ausführlich im Deutschen Ärzteblatt gewürdigt. Dieses „Erfassungsprogramm für angeborene Fehlbildungen bei Neugeborenen“ läuft seit Ende 1989 in drei Mainzer Universitätskliniken unter Federführung von Professor Jürgen Spranger – als „Modellprojekt“ finanziert vom Bundesgesundheitsministerium und vom Land Rheinland-Pfalz. Ein dicker Erfahrungsbericht über das „Mainzer Modell“ lag den Gesundheitsministerien zum Zeitpunkt der Monitor-Enthüllungen bereits vor.
Was die Ursachen der Fehlbildungen angeht, macht das wissenschaftliche Werk allerdings nicht schlauer. Mit Sicherheit kann die Mainzer Projektgruppe lediglich sagen, welche der definierten Fehlbildungen sie im dreijährigen Untersuchungszeitraum wann entdeckt hat. „Mindestens eine große Fehlbildung“ wurde bei 974 von 12.479 untersuchten Neugeborenen diagnostiziert, die meisten betrafen den Knochenbau, Gelenke und die Nieren.
Erste Auswertung
Die Ursachenforschung erschöpft sich in statistischer Methodik. Die sogenannte „analytische epidemiologische Auswertung“ funktioniert beim Mainzer Modell im wesentlichen so: Ausgangspunkt sind die Annahmen der Mediziner. Sie listen auf, was sie als Risiko einschätzen. Anschließend zählen die Wissenschaftler mit Computerunterstützung aus, ob und in welchem Maß die Risikofaktoren bei Eltern von Kindern mit und ohne Fehlbildungen anzutreffen sind. Treten Risikofaktoren bei der ersten Gruppe häufiger auf, so werden sie als mögliche Ursache der Fehlbildung in Erwägung gezogen.
Eine „statistisch signifikante“ Häufung bei der Verknüpfung mit großen Fehlbildungen errechnete der Computer für die „Risikofaktoren“ Frühgeburtlichkeit, Verwandtschaft der Eltern, Plazentainsuffizienz, vorzeitige Wehen und Blutungen während der Schwangerschaft. Statistisch zwar nicht signifikant, aber ausweislich der Zahlen doch häufiger registriert wurden Behinderungen, wenn folgende Risikofaktoren vorlagen: Elternteile oder Geschwister mit großer Fehlbildung, Berufsrisiko der Eltern und übermäßiger Alkoholgenuß der Mutter. In der Risikostatistik fehlen Schadstoffe und Umwelteinflüsse; sie wurden im Modell-Fehlbildungsregister gar nicht erst berücksichtigt. Zum potentiellen Risikofaktor werden beim Mainzer Vorbild grundsätzlich die Eltern, ihr Verhalten und ihre genetische Konstitution.
Trotz dieses verengten Blickwinkels behaupten die Modell-Registrierer, ihre Untersuchungsergebnisse schüfen die Grundlagen „für weitere Schritte einer möglichen Ursachenforschung“ und „für eine mögliche Prävention angeborener Fehlbildungen“. Der Schlüsselbegriff der Wissenschaftler heißt „gezielte Beratung“. Und die zielt keineswegs auf Verursacher von Schadstoffen oder Verantwortliche in den Ministerien für Wirtschaft, Umwelt und Verkehr. Vielmehr richtet sie sich ausschließlich an die angehenden Mütter und Väter. Um die „Fehlbildungsinzidenz zu reduzieren“, müßten sie über die Belastungen durch Alkohol, illegale Drogen und Medikamente aufgeklärt werden, heißt es in dem Bericht. Und an die Risikogruppe derjenigen, die bereits ein behindertes Kind zur Welt gebracht haben oder selbst behindert sind, richtet sich das folgende Vorbeugeverbot: „Eine erbliche Belastung kann nicht beseitigt, durch gezielte genetische Beratung jedoch in den Entscheidungsprozeß der prospektiven Eltern einbezogen werden.“
Regionale Register
Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer und der Mainzer Projektleiter Spranger fordern, in Deutschland zehn regionale Fehlbildungsregister einzurichten und darin jährlich 40.000 Neugeborene zu erfassen. Ihre Daten sollen in „einer vom Bund auszustattenden, zentralen Einrichtung“ zusammengeführt und ausgewertet werden. Vorgesehen ist auch eine Verknüpfung mit den Ergebnissen sämtlicher Chromosomenuntersuchungen, die im Rahmen der vorgeburtlichen Diagnostik stattfinden. Eine „flächendeckende Erfassung bestimmter Chromosomenanomalien kann einen Hinweis auf die genetische Belastung der Bevölkerung geben“, begründet der Wissenschaftliche Beirat diese seine Empfehlung.
Die Experten benötigen die Daten der Laien. Angesichts der Ärztekammer-Pläne und der Praxis des Mainzer Modells darf man gespannt sein, wie sie ihnen die Glaubwürdigkeit der folgenden Aussage erklären: „Fehlbildungsregister müssen zur Analyse von Umwelteinflüssen eingerichtet werden.“ Geschrieben hat diesen Satz der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer.
Zunächst aber sind die leitenden Medizinalbeamten der Bundesländer am Zug. Die behördlichen Berater der Gesundheitsminister treffen sich am folgenden Donnerstag in Hamburg. Auf der Tagesordnung steht auch das Thema „Fehlbildungsregister“.
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