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Schrapnellkugel aus Großvaters Lunge

Zerschossene Baumstümpfe, Granatsplitter, Katakomben-Fotografie – In Flandern sammelt man bewährte und durchsiebte Militaria, die ihren Dienst im Ersten Weltkrieg taten. Besonders der Brite sieht's gern. Eine Reportage  ■ Von Patrick Bierther

Was Jacques Schrier da in seinen Händen hält, ist schlammig, zerrissen, und es riecht schlecht. „Frisch ausgegraben: die Stiefel eines deutschen Infanteristen aus dem Ersten Weltkrieg – sogar die Socke hängt noch drin.“ Der Inhaber des „Privat-Museums mit Schützengraben“ in Zillebeke bei Ypern ist begeistert.

Schrier legt seine neueste Errungenschaft auf einen Haufen Kriegsgerümpel: Auf den Fußböden der beiden Hinterzimmer von Schriers Café stapeln sich verrostete Helme, Granatsplitter und verrottete Uniformteile. In Vitrinen an der Wand blanke Pickelhauben, Gewehre, Fotos von toten und lebenden Soldaten, dazwischen Spinnweben. Vor der Tür ein Hektar Original-Schlachtfeld von 1918 samt Granattrichtern und zerschossenen Baumstümpfen, überwachsen von jungen Holunderbüschen. Das ist das „Privat- Museum mit Schützengraben“ der Familie Schrier. Schon 1923 witterte die ausgebombte Bauernfamilie im Schlachtfeld-Tourismus ein gutes Geschäft. Sie kaufte das Gelände des „Hügels 62“, einer während der vier „Flandernschlachten“ wichtigen Stellung. Die Landschaft war noch gezeichnet von den Materialkämpfen, in denen Briten und Deutsche sich hier jahrelang massakriert hatten. Während ringsum aufgebaut wurde, konservierten die Schriers die Zerstörung. Bereits in den 20er Jahren kamen Touristen, um das Privat-Schlachtfeld zu bestaunen und das, was die Familie darauf gefunden oder Sammlern aus der Umgebung abgekauft hatte.

1980 übernahm Jacques, der heute 42jährige Enkel der Firmengründer, das Unternehmen. Sein Publikum besteht vor allem aus Briten, „bis zu hundert am Tag“, busladungsweise. Jacques Schrier bedauert: „Die Belgier interessieren sich weniger für Geschichte.“

Und die Deutschen? „Seit zwei, drei Jahren kommen viel mehr als früher, vor allem junge Leute mit Pkw.“ Wie erklärt er sich das steigende Interesse? „Vielleicht spricht man heute in Deutschland mehr über diese Dinge.“

Schrier selbst schwärmt für Kriegsgeschichte, seit er im „Privatmuseum“ aufgewachsen ist. „Damals wurden in der Umgebung noch oft Überreste zerfetzter Soldaten gefunden, beim Pflügen oder Ausschachten. Der Staat bezahlte rund fünf Mark pro abgeliefertes Skelett.“ Bauern und Bauarbeiter sollten motiviert werden, ihre Funde nicht stillschweigend verschwinden zu lassen aus Angst vor Scherereien mit der Kriegsgräberkommission. Rings um Ypern liegen 126.000 deutsche und ebenso viele Commonwealth-Soldaten begraben.

Warum das Schlachtfeld „Hill 62“ besichtigen, auf dem so viele gestorben sind? „Ich wollte immer den Ort besuchen, an dem mein Vater 1917 gefallen ist“, sagt eine 80jährige englische Museumsbesucherin. „Hier liegt die Jugendliebe meiner Mutter begraben“, sagt eine andere Britin von Mitte 50. Den englischen Veteranen James Aitken zog es 1991 nach Ypern, um an den Gräbern seiner Kameraden seinen 95. Geburtstag zu feiern.

„Die Erben von Veteranen schicken uns manchmal Nachlässe“, sagt Albert Beke, seit 1974 Kurator des städtischen „Erinnerungsmuseums Ypernbogen 14––18“. Da kommen dann Orden, aus den Kirchen Yperns gestohlene „Andenken“ und auch mal die Schrapnellkugel aus Großvaters Lunge hinter Glas.

In der 1984 konzipierten Ausstellung im kommunalen Museum informieren Graphiken über den Verlauf des Krieges, Fotos und Ausstellungsstücke zeigen seine Folgen. Einige der Themen: „Flüchtlinge“, „Evakuierung“, „42-cm-Granaten auf Ypern“, „Rettung der Kunstschätze“, „Typhus und Rationierung“.

Beim Stichwort „Hügel 62“ rumpft Beke die Nase: „Reine Geschäftemacherei. Wir hier zeigen keine Sensationsbilder von Leichen. Wir führen auch so vor Augen, wie schrecklich der Krieg war. Daß sowas nie wieder passieren darf.“

Auch Beke verzeichnet ständig steigende Besucherzahlen: 1973: 26.000, 1983: 48.700, 1991: 70.200. „Achtzig Prozent davon sind britische Schulklassen, die an den Ort reisen, an dem ihre Urgroßväter gekämpft haben“, sagt Beke. Diese Touren spielen im Geschichtsunterricht an britischen Schulen eine wichtige Rolle. In Deutschland steht der Essener Gymnasiallehrer Norbert Krüger allein auf weiter Flur. Neunmal hat er mit Schülern die Somme, Ypern und Langemarck besucht. „Die Schüler wollen mehr geboten bekommen als nur das Lehrbuch. Wir werten alte Feldpostbriefe aus, besuchen Friedhöfe, auf denen frühere Schüler unseres Gymnasiums begraben liegen. Ich fahre mit meinen Schülern auf die Schlachtfelder, um den Krieg aus der Schützengrabenperspektive erfahrbar zu machen.“ Und nebenbei die Äcker nach Uniformknöpfen und Granatsplittern abzusuchen.

In Großbritannien hat sich eine Reihe von Reiseveranstaltern spezialisiert auf „Pilgerfahrten“ zu Schlachtfeldern aller Kriege. „Major and Mrs. Holt's Battlefield Tours“ etwa bringen seit 17 Jahren „Familien, Veteranen, Studenten und Militär-Enthusiasten“ nach Waterloo, neuerdings auch nach Stalingrad oder auf die Falklands.

Die Konkurrenz von „Galina International Battlefield Tours“ hat einen besonderen Leckerbissen auf dem Programm: die „Bomber Command Tour“, auf der Orte besichtigt werden, die im Zweiten Weltkrieg von britischen Bombern verwüstet wurden.

Die Veteranen der „Sherwood Rangers“ haben ihre Rundfahrt durch die Normandie selbst organisiert. Rund 40 alte Männer, einige mit ihren Frauen und Enkeln, sind nach Bayeux gekommen. Hier weihen sie einen Gedenkstein ein, der daran erinnert, daß ihre Einheit am 7. Juni 1944 die Stadt befreit hat. Zum Festakt haben sie marineblaue Blazer angezogen und ihre Orden angelegt. Nach der Feier spricht der alte Regimentspfarrer auf dem Kriegerfriedhof über den Gräbern der gefallenen Kameraden ein paar Worte.

Tags zuvor war Freizeitkleidung angesagt. Da haben die alten Männer den Pont du Hoc besucht, eine Steilklippe, auf der die Wehrmacht eine Geschützstellung errichtet hatte und die bei der Invasionslandung unter schweren Verlusten von US-Rangers gestürmt wurde. Spektakulär sind die Betontrümmer der Bunker, riesig die Granattrichter. Einige Bunker sind zugänglich. Deutsche, britische und ein paar französische Touristen mit Videokameras drängen sich in den feuchten Räumen mit den verbrannten Holzdecken: „Dieser Sehschlitz war auch im Spielfilm zu sehen.“ Mitglieder der „Sherwood Rangers“ stellen sich zum Gruppenbild mit Bunker zusammen.

Zusammen mit den „Rangers“ angereist ist Karl König (70), Veteran des Deutschen Afrika-Korps. Nach seiner Pensionierung hat der Hamburger Kontakt zu seinen früheren Gegnern gefunden. „Die Sherwood Rangers haben 1943 in Tunesien meine Panzerkompanie ausgelöscht, ich wurde gefangengenommen. Jetzt liege ich mit einem von denen auf einem Hotelzimmer. Ich frage mich: Wie konnten wir aufeinander schießen?“

König hat schon in Tunesien das Grab seines gefallenen Kompanieführers besucht. Was ihn und die Rangers zurück an die Orte treibt, an denen sie soviel gelitten haben? „Es ist die Erinnerung an unsere Jugend, so schlimm sie auch war. Wir werden alt. Wir verabschieden uns von unseren Gefallenen. Und wir sind vielleicht ein bißchen sentimental.“

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