Ein kurzer Ostberliner Frühling

Die taz war die erste West-Zeitung mit einer DDR-Ausgabe, die bald wieder „abgewickelt“ wurde  ■ Von Klaus Wolschner

Dieses flaue Gefühl im Bauch, wenn die Grenzposten der Vopo den Reisepaß fixierten und dann mich anstarrten und dann wieder den Reisepaß und dann wieder mich – ich spüre es noch heute. Natürlich war es total legal, daß wir in den ersten Monaten des Jahres 1990 hinüberfuhren, Computerdisketten mit den Texten der taz in der Tasche, um ein wenig zu helfen, wie in einem Seitenflügel des ZK der SED nach Recht und Gesetz der Deutschen Demokratischen Republik und ihres SED- Generalsekretärs Egon Krenz eine waschechte DDR-Zeitung mit dem Titel „die tageszeitung“ produziert wurde. Aber was hieß schon legal in einer Zeit, in der die russischen Militärs so laut gegen den Außenminister Schewadnardse grummelten, daß man es sogar in Berlin hören konnte? Damals, ewig lang scheint es her, redete der CDU-Kanzler Kohl vorsichtshalber von einer „Konföderation“, um die nicht zu provozieren, die man „Konservative und Kommunisten“ zu nennen lernte. Natürlich war es auch Anfang 1990 noch illegal, daß ein Westler „drüben“ für Westgeld ein Zimmer „kaufte“, um in der Hauptstadt der DDR zu arbeiten, schon gar bei einer Zeitung.

Wir, der Westen. Nichts hat ja die Identifikation mit dem Westen so fest geschmiedet wie die Erfahrung der Grenze des realen Ostens. Daß die DDR-Opposition eine eigene Zeitung herausbringt, konnte die SED in den Wochen nach dem November 1989 erfolgreich verhindern. Die Westpresse, das war klar, konnte aber auf die Dauer nicht mit der durchlöcherten Mauer aufgehalten werden. Daß die taz ausgerechnet die erste war, die sich unter der Mauer durchwühlte, erscheint im nachhinein als genialer Trick.

Um Konzeptionen zu entwickeln, war die Zeit nicht da. Mitte Februar kam von der SED das Okay: In der DDR kann eine Zeitung mit dem Titel „die tageszeitung“ erscheinen, die mit der linken taz aus West-Berlin „kooperiert“. Auf der Druckmaschine, auf der abends die horrende Auflage des Neuen Deutschlands gedruckt wurde, rotierte am späten Nachmittag eine Stunde lang die taz, eine Ration Papier gab es (streng für DDR-Geld) für 60.000 Exemplare mit zwölf taz-Seiten im halben ND-Format. Wir wollten keinen Tag verlieren.

Zwei Wochen später stand die Computertechnik mit neu geschriebenen Programmen in vier Räumen im ZK-Gebäude in der Oberwasserstraße, zwei Handvoll DDR-Bürger, die meisten ohne Journalismuserfahrung, zwei West-Redakteure, die sich ducken mußten, als das DDR-Fernsehen den Presseneuling begrüßte, nannten sich „Redaktion“, und es ging los.

Für eine Verständigung darüber, was denn taz sei, war einfach keine Zeit. Es hätte sich auch sofort die Frage gestellt, was denn taz für die DDR sein könnte, und darauf war eigentlich niemand vorbereitet. Also haben wir sie einfach gemacht, die Ost-taz: In der Nacht entstanden aus den West-Disketten acht Seiten Auslands- und Hintergrundberichterstattung. Das wurde de facto ein Nachdruck der West-taz vom Vortage, aber „geostet“: Wo immer typische West- Ausdrücke oder Selbstverständlichkeiten vorkamen wie das Wörtchen „drüben“, wurde die Perspektive umgedreht und alles akribisch durch den entsprechenden Ost-Jargon ersetzt. Morgens um acht Uhr kam dann die „aktuelle Schicht“, fünf oder sechs RedakteurInnen, die mit einem Netz von „Korrespondenten“, von denen die meisten auch keine journalistische Vorerfahrung hatten, in fünf Stunden vier Seiten aktuell zusammenschusterten. Der mit Abstand beste Mann saß in Leipzig. Später erfuhren wir, daß er von einem Stasi-Stipendium als „OibE“ gelebt hat, „Offizier in besonderem Einsatz“.

In den ersten Wochen war unserer Zeitung eine wunderbare Sache. Überhaupt daß sie erschien, konnte einen beflügeln. Unsere Büroräume waren mit dem ZK mitten im Zentrum der Hauptstadt der DDR, und an den lauen Frühlingsabenden rasten unsere Handverkäufer zum Bahnhof Friedrichstraße, zum Alexanderplatz und was weiß ich wohin, um die erste und einzige DDR-Zeitung mit einem rotgedruckten Titelzug loszuschlagen. Da es in der DDR verboten war, Westpresse einzuführen und zu verkaufen, war die rote Schrift ein Symbol: die einzige Zeitung, die anders war als die Staats- Organe, Botin der neuen Zeit. Was die neue Zeit werden sollte, würde sich schon noch finden.

Als dann wenige Wochen später das Einschmuggeln der Westpresse geduldet und dann sogar – zuerst mit Ausnahme der Springer-Presse – offiziell erlaubt wurde, da waren wir schon fast etabliert. Wir bekamen in die Redaktion den Anruf einer Kioskverkäuferin, die sagte, sie bekomme von der Süddeutschen jetzt Werbetafeln mit Leuchtreklame, also von der Westpresse, warum es so was denn „von unserer Presse“ bisher nicht gebe.

„Unsere Presse“, das war hier die taz! Das war es, was wir erreichen wollten: Wir, die DDR-taz. Abends gegen 23 Uhr fand man fast in jedem S-Bahn-Wagen einen taz-Leser, jedenfalls in Berlin- Mitte, und das Neue Deutschland genehmigte nach einigen Bittstellungen eine erhöhte Papierration: Mit 80.000 Exemplaren hatte die Ost-taz die West-taz in der Druckauflage überflügelt.

Während dieser euphorischen Wochen zerfielen die Hoffnungen auf einen eigenständigen Weg der DDR-Gesellschaft. Wir haben das mitbekommen, aber Thema in unserer Zeitung war es nicht. Jeden, der eine Sensibilität für die Erwartungen der Menschen in der DDR hatte, beschlich das Gefühl: Wer jetzt den Umtausch 1:1 verspricht, also Westgeld, der gewinnt die Wahl zur Volkskammer der DDR. „Wir werden noch in diesem Sommer mit richtigem Geld in Urlaub fahren“, verkündete de Maizière in der Wahlnacht im März 1990.

Als wir danach in unserer DDR- taz über die Volkskammerwahl sprachen, stellten wir fest, daß die meisten Ost-KollegInnen die SED/PDS gewählt hatten. Kein Wunder: Die meisten waren früher einmal Mitglied in der SED gewesen und hatten nie zur Bürgerrechtsbewegung gehört. Je deutlicher es wurde, daß zwischen einer strikten West-Ausrichtung und einer Ost-Nostalgie (organisiert in der PDS) wenig politischer Raum bleiben würde, um so verzweifelter wurde die Ost-West-Debatte in der taz: Die West-KollegInnen konnten damit leben, die Ost-KollegInnen nicht. Als die Mehrheit der Ost-taz sich dagegen wehrte, die Adressen der konspirativen Stasi-Wohnungen (die der West- taz zugespielt worden waren) in der taz zu verbreiten, eskalierte der Konflikt. Wollten unsere DDR- taz-Kollegen die Bevölkerung fürsorglich vor der Wahrheit dieses Adressenwerkes, in dem jeder Nachbarn fand, bewahren? War die Stasi-Vergangenheit des SED- Staates doch nicht so schlimm, daß man sie bis zum letzten durch Veröffentlichung zerstören mußte? Für uns West-tazler jedenfalls hatte die Redaktion der Ost-taz im Grunde mit dem politischen und journalistischen Selbstverständnis der taz gebrochen, das Ende der Ost-taz war besiegelt.

Als West-tazler zum Alexanderplatz fuhren, um die Stasi-Listen im Zentrum der Öffentlichkeit der DDR zu verteilen, gab es die Grenze und die Vopos praktisch nicht mehr, der Westen hatte vollkommen gesiegt.

Von der DDR blieb vielleicht der Grüne Pfeil, auch in der Ost- taz hatte sich nichts entwickelt, was von uns Westlern als „erhaltenswert“ angesehen wurde. Wenig später waren die Ost-KollegInnen auf die West-Redaktionen verteilt, zwei Jahre später war die taz-Redaktion wieder rein westlich – die KollegInnen mit DDR-Biografie hatten ihren Platz nicht gefunden.

Und vom Tag der Währungsunion an sank die Ost-Auflage kontinuierlich. Auch gewichtige wirtschaftliche Gründe sprachen für die „Abwicklung“ der Ost-taz. Ihr wertvolles Westgeld wollten ein Jahr nach dem Herbst 1989 nur noch wenige für Zeitungen, die diesen Westen repräsentierten, ausgeben. Der gelernte DDR-Bürger in den „neuen Bundesländern“ kauft bis heute lieber die gewohnten alten Titel. Auch die anderen Versuche der „Wende“-Zeit, für eine Zeitung aus eigener DDR- Kraft hinreichend LeserInnen zu finden, sind vollkommen gescheitert. Leider.

Der Autor stieß im Sommer 1979 zur taz und baute später den Bremer Lokalteil auf. 1990 war er „Sonderbeauftragter“ für die Ost-taz.