: Die Kreisbahn der Telenauten
■ Fernsehwirklichkeit und Wirklichkeitsfernsehen: Markus Peichls Doku-Show "Das wahre Leben"
Als Sue Ellen in „Dallas“ ihr erstes Kind bekam, erhielt die ARD- Filmredaktion in Frankfurt dutzendweise Pakete mit Pampers. Im Glottertal suchten Herzkranke Hilfe in Professor Brinkmanns „Schwarzwaldklinik“. Und als in der „Lindenstraße“ eine Wohnung frei wurde, schrieben Hunderte von Wohnungssuchenden an den WDR. Das wahre Leben findet lange schon jenseits der Mattscheibe statt.
Deswegen hat der Zeit-Geist Markus Peichl, Erfinder einschlägiger Gazetten, wieder einmal „Tempo“ gemacht und den virtuell Obdachlosen ein Zuhause vor der Kamera versprochen: „Das wahre Leben“ ist eine Dokumentations- Show, die Peichls Firma „Mediaboard“ für den Hamburger Pay- TV-Sender premiere produziert. Sendestart soll voraussichtlich im Herbst sein. Das US-Original „The Real World“ war eigentlich eine Notgeburt. Weil bei MTV das Geld für eine Soap opera nicht gereicht hatte, überließ man Laiendarsteller vor laufender Kamera einfach sich selbst und erzielte damit Quoten.
Die Suche nach dem Authentischen
Die deutsche Version wird vorab als neue Generation des Fernsehens gefeiert. Zehn unverschlüsselt ausgestrahlte Folgen werden in komprimierter Form den kompletten Tagesablauf von sieben jungen Menschen zwischen 18 und 28 dokumentieren, die zum Zweck einer rund um die Uhr erfolgenden Beobachtung demnächst drei Monate in einer Berliner WG zusammenleben sollen.
In einer Zeit, in der Lebensstile und Tagesabläufe durchformatiert sind wie Computer-Disketten und das Fernsehen auf 22 Kanälen das fiktionale Äquivalent dazu liefert, wird das Uninszenierte, Spontane, Alltägliche wieder zu einer entdeckenswürdigen Sensation: ein Ereignis. Gesucht wird das sogenannte „Zwischenmenschliche“, der handfeste Krach, der Witz ohne Laugh Tracks.
Ob allerdings die handverlesenen Kids im Tele-Loft genau das bringen, darf bezweifelt werden. Sowohl die Kriterien, nach denen die Bewerber ausgewählt werden, als auch das Casting selbst stehen bereits im Dienste der Inszenierung des vermeintlich „wahren Lebens“. So wird schon im Vorfeld ausgeschlossen, was eigentlich gesucht wird: Das Authentische wird sich in diesem Zuchtlabor für telegene Menschen ebensowenig einstellen wie das Abenteuer bei der Camel Trophy.
Trotz allem Zeitgeist-Schnickschnack ist der humanoide Tierversuch interessant, versucht er doch eine Weise menschlichen Zusammenlebens zu rekonstruieren, an deren Zerstörung das Fernsehen nicht ganz unbeteiligt war. Denn was seit der Erindung des zweiten Programms als allabendliche Entscheidungsschlacht – „Sportschau“ vs. „Raumschiff Enterprise“ – begann, führte mit der fortschreitenden Vervielfältigung des Sendeangebotes und der preiswerten Bereitstellung von Zweitempfängern bald zur Vereinzelung der Zuschauer.
Das Medium reagierte mit einer klassischen Gegenbewegung: In dem Maße, in dem sich die modernen Familienmitglieder vor ihren Individualempfängern vereinzelten, beschworen die Programmdirektoren den familären Verbund in Serie. 111 Folgen lang repräsentierte in den fünfziger Jahren die „Familie Schölermann“ erfolgreich das ungespaltene TV-Idyll. Außenwelt drang hier nur in Form von Lappalien ein. Ein kaputter Heizkessel war da schon eine mittelschwere Sensation.
Aber die Verhältnisse außerhalb der Fernsehstuben änderten sich unaufhaltsam, und so änderten sich auch die Strategien der Programmacher: Wolfgang Menge präsentierte in den Siebzigern die erste Reality-Familienshow: „Ein Herz und eine Seele“ wurde in Echtzeit und unter Berücksichtigung aktueller Ereignisse live ausgestrahlt. Zwar wurde die Sendung im Studio und mit Profischauspielern produziert. Der Eindruck alltäglicher Realität triumphierte aber derart über die inszenatorische Arbeit, daß schon bald eine Tafel auf den fiktionalen Charakter der Reihe hinweisen mußte.
Die durch „Ein Herz und eine Seele“ zerrüttete Utopie des sozialen Friedens wurde Anfang der Achtziger im Zuge der Wende in der „Schwarzwaldklinik“ wiederbelebt. Small talk über Zipperlein bildete hier den Ausganspunkt Helmut-Kohlscher Zwischenmenschlichkeit im Geist des deutschen Heimatfilms der fünfziger Jahre. Vor acht Jahren dann konterte Hans Werner Geissendörfer die Schwarzwälder Replikanten- Party mit einem sozial-demokratischen Gegenmodell. Die wiederentdeckte aristotelische Einheit von Ort und Zeit der Handlung trieb die Unterwanderung der Wirklichkeit durch das Paralleluniversum „Lindenstraße“ weiter voran.
Die bislang einzig „wahre“ Familienserie schuf 1991 Ute Diel mit den „Fussbroichs“. In zwanzigminütigen Realzeit-Blöcken war die Kamera über mehrere Jahre unauffälliger Gast einer Kölner Familie. Das ganz normale Leben, für ganz normale Zuschauer. Diese gnadenlose Doppelung alltäglicher Banalität führte zur weiteren Einschmelzung medialer Distanz. Als die Verlobung von Frank Fussbroich mit der kaufmännischen Angestellten Pia zu platzen drohte, war das Anlaß zur allgemeinen Trauer und der örtlichen Boulevardpresse eine Titelgeschichte wert.
Telegene Exhibitionisten
Wo die Fussbroichs noch zu Ikea fuhren, weil sie realiter irgend einen Tinnef brauchten (den sie auch ohne Kamerabegleitung gekauft hätten), raufen sich die erwählten Telekids aus dem „Wahren Leben“ nicht deswegen zusammen, weil sie selbst es wollen, sondern weil das Medium es will.
Wer nach dem erwarteten Ergebnis des TV-Experiments fragt, erfährt von den Machern: „Nicht ein Drehbuch beantwortet diese Frage, sondern die Wirklichkeit.“ Da aber, wie wir gesehen haben, die Wirklichkeit längst im Fernsehen und das Fernsehen in Wirklichkeit stattfindet, können wir – egal wie das Casting ausfällt – davon ausgehen, daß das dreimonatige Leben im Loft-Studio („Ton und Licht sind fest installiert“) von vornherein kein Leben um des Lebens willen ist, sondern ein Leben für die Kamera. Auch wenn der Pressetext von den Akteuren verspricht, daß sie aus „völlig unterschiedlichen Milieus, Subkulturen und sozialen Schichten“ kommen, so kennzeichnet sie doch allein schon der gemeinsame Wunsch nach Fernsehpräsenz als Serienmenschen: Telegene Exhibitionisten werden in einem Akt selbsterfüllender Prophezeiung genau die Vorstellung bieten, die durch die Auswahlkriterien und die Struktur bereits vorgegeben sind.
Die totale Adaption des Privaten durch das Medium, wie sie in „Das wahre Leben“ modellhaft vorgeführt wird, funktioniert vollkommen zwanglos, weil alle ernsthaften Kandidaten in ihrem unbedingten Willen zur Telepräsenz gleichsam eine Prädisposition zur Charakterlosigkeit in sich tragen: „Das wahre Leben“ ist ein Zuchtlabor für den Mensch ohne Eigenschaften. Ich finde das großartig. Manfred Riepe
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