piwik no script img

„Unter der Asche liegt noch die Glut“

In Algerien übernehmen militante Islamisten in Dörfern und Städten um Algier schrittweise die Macht / In der Hauptstadt ist von einem „Gürtel des Horrors“ die Rede / Vorstufe zum Einmarsch?  ■ Aus Blida Khalil Abied

„Wo kommst du her?“ – „Wo willst du hin?“ – „Was willst du dort?“ Mit mürrischem Gesichtsausdruck stellen die Soldaten jedem Fahrgast stereotyp die gleichen Fragen. Fast eine Stunde braucht der Zug für die Strecke von der algerischen Hauptstadt Algier nach Blida. Genügend Zeit für die mitreisenden Soldaten, um das Gepäck sämtlicher Passagiere zu durchwühlen. Besonders gründlich inspizieren sie jüngere Fahrgäste. Jugendliche gelten in Algerien, wo über 60 Prozent der EinwohnerInnen unter dreißig Jahre alt sind, als besonders anfällig für die Parolen der Islamisten. Ein vielleicht fünfzehnjähriger Junge muß eine komplette Leibesvisitation über sich ergehen lassen, weil ein Offizier in seinem Portemonnaie mehr Geld gefunden hat, als ein Jugendlicher üblicherweise mit sich herumträgt. Mit zittriger Stimme erklärt der Junge, das Geld gehöre seinem Vater. Dieser habe ihn beauftragt, für ihn Schulden zu begleichen.

Immer wenn die Militärs von einem Waggon in den nächsten wechseln, spielen sich hinter ihren Rücken ähnliche Szenen ab: die Passagiere beginnen zu murren, Flüche werden gezischt und auf den Boden gespuckt.

Als der Zug rasselnd im Bahnhof zum Stillstand kommt, drängen die Fahrgäste einschließlich der Soldaten zu den Ausgängen der dunkelgrünen Waggons. Vor dem Bahnhofsgebäude strömen sie an einem kleinen, auf der Erde hockenden Mädchen vorbei. Es verkauft Zigaretten. Noch vor wenigen Wochen hätte sie für diese Ware keine Abnehmer gefunden, ja der Verkauf von Tabak wäre lebensgefährlich gewesen. Damals war die Provinzhauptstadt Blida in den Händen von Islamisten, und diese hatten ein strenges Rauchverbot verhängt. Wer mit dem angeblich unislamischen Glimmstengel entdeckt wurde, riskierte Kopf und Kragen. „Die Stadt ist befreit, und die Leute können wieder rauchen“, freut sich das Mädchen über den mittlerweile veränderten politischen Status quo.

In den Straßen der Stadt wimmelt es von Menschen. Vereinzelt sieht man Frauen, die ihre Haare offen tragen. Bis vor kurzem wäre dies eine lebensgefährliche „Provokation“ der Islamisten gewesen. In den Kaffeehäusern herrscht Hochbetrieb, einzelne Gäste lesen Zeitung. Auch dies war unter der Fuchtel der Islamisten verpönt. Andere Bewohner der Stadt, deren knappes Budget einen Besuch im Café nicht zuläßt, lungern auf den Straßen herum, rauchen eine billige Zigarette nach der anderen und starren ins Leere. Haiti werden diese jungen Männer in Algerien genannt. Hait ist die arabische Bezeichnung für Wand. Haiti sind im allgemeinen Sprachgebrauch jene Hunderttausende arbeitslose Jugendliche, die die meiste Zeit des Tages damit verbringen, „mit ihren Rücken Wände zu stützen“.

Die an jeder Straßenkreuzung postierten Polizisten achten nicht darauf, ob Verkehrsteilnehmer es mit dem Vorfahrtsrecht nicht so genau nehmen oder eine rote Ampel ignorieren. Sie halten gezielt Autos an, deren Insassen ihnen verdächtig erscheinen. Gelegentlich wird auch ein Fußgänger auf offener Straße durchsucht.

Zwischendurch flitzen weiße und grüne Militärjeeps durch die Straßen. In ihnen sitzen die sogenannten „Ninjas“. Die zu einer Spezialeinheit gehörenden Soldaten erhielten ihren Nammen aufgrund ihrer martialischen Aufmachung. Ihr Antlitz verbergen sie unter einer schwarzen oder dunkelblauen Maske. Ähnlich der unter deutschen Autonomen beliebten „Haßkappe“, läßt sie nur die Augen erkennen. Diese „Ninjas“ waren es, die vor wenigen Wochen Blida mit unglaublicher Brutalität aus den Händen der Islamisten zurückeroberten.

„Die Ruhe hier trügt“, meint der Rechtsanwalt Dschamal. „Unter der Asche liegt noch die Glut.“ Um sich von diesem Umstand zu überzeugen, brauche man nur einen Ausflug mit der Bergbahn in die Umgebung zu machen. Doch die Bahn ist außer Betrieb. „Aus technischen Gründen gesperrt!“ verkündet ein Schild. Aber auf Nachfrage deutet der dennoch an seinem Arbeitsplatz sitzende Kassierer vieldeutig in Richtung Berge und raunt: „Dort oben ist es voll von ihnen.“ Bis vor kurzem waren die in nur zehnminütiger Fahrt mit der Bergbahn zu erreichenden Zedernwälder der malerischen Scharia-Berge der Ort, an den sich Liebespaare zurückzogen, um den Blicken der Verwandtschaft zu entgehen. Jetzt halten sich dort militante Islamisten versteckt. Wenn im öffentlichen Sprachgebrauch von „Berggeistern“ die Rede ist, weiß in Blida jeder, daß Aktivisten der „Bewaffneten Islamischen Gruppe“ (GIA) und der „Bewaffneten Islamischen Bewegung“ (MIA) gemeint sind. Die Gruppierungen wurden im Umfeld der „Islamischen Heilsfront“ (FIS) gegründet, der mittlerweile verbotenen größten islamistischen Partei Algeriens. Mittlerweile sind die Befehlsstrukturen der Militanten jedoch kaum mehr zu durchschauen. Die GIA wird hinter den meisten Attentaten auf Intellektuelle, Journalisten und Ausländer vermutet. Während wichtige Teile der FIS mittlerweile für einen Dialog mit der algerischen Führung eintreten, wird dieser von der GIA strikt abgelehnt. Nach Überzeugung der überwiegend jungen GIA-Mitglieder taugt allein Gewalt als Mittel, um das „ungläubige Regime“ zu stürzen.

„Es war der reine Horror“, erinnert sich die Hausfrau Salima an die Zeit, in der die Islamisten Blida unter ihrer Kontrolle hatten. „Ab dem Nachmittag waren die Straßen ausgestorben.“ Ende Januar hatten Mitglieder der GIA in Blida Flugblätter verteilt, auf denen sie Verhaltensdirektiven verkündeten. In der Mehrzahl handelte es sich um Verbote. So wurde untersagt, in Kaffeehäusern Karten oder Backgammon zu spielen. Öffentliches Rauchen und die Lektüre von Zeitungen wurde von den selbsternannten Sittenwächtern als „unislamisch“ deklariert und unter Strafe gestellt. Von 16 Uhr nachmittags bis zum nächsten Morgen galt ein strenges Ausgehverbot. Und natürlich sollten die Frauen sich „islamisch“ kleiden, sprich: den Hidschab anlegen.

Die Bevölkerung von Blida fügte sich dem Diktat. Allen war klar, daß Widerstand lebensgefährlich war, und auf Schutz durch Regierungstruppen hoffte niemand. „Viele Armeeangehörige sind nicht bereit, ihr Leben im Kampf gegen die Islamisten zu riskieren. Sie müssen befürchten, daß sich die Militanten auch an ihren Familien rächen“, beschreibt der Anwalt Dschamal die Stimmungslage unter den algerischen Streitkräften. Zudem gebe es viele Soldaten, die nicht bereit seien, in dem Konflikt mit den Islamisten „für das korrupte Regime Position zu beziehen“.

So konnten nur die „Ninjas“ Blida Anfang März befreien. Doch der Preis, den die Stadt und ihre Bewohner dafür zahlten, war hoch. Um – wie von ihren Ausbildern gefordert – „Angst in die Herzen der Terroristen zu pflanzen“, begannen die Spezialeinheiten in der Stadt eine blutige Kampagne. Hunderte Personen wurden verhaftet, darunter Ehefrauen, Verwandte und Bekannte von Islamisten, die sich in die Berge geflüchtet hatten. Später wurden in den Straßen der Stadt Dutzende Leichen gefunden. Allein in Salimas Viertel lagen an einem Morgen die leblosen Körper von zwölf jungen Männern in den Straßen, einige enthauptet. Alle waren wenige Tage zuvor verhaftet worden. Von weiteren damals festgenommenen Personen fehlt bis heute jede Spur.

Die Regierung befahl Ladenbesitzern, ihre Geschäfte wieder bis zum späten Abend zu öffnen und wieder Zigaretten und Zeitungen zu verkaufen. Jeder, der dieser Anweisung nicht Folge leistete, hatte mit dem Entzug seiner Arbeitserlaubnis zu rechnen.

„Die Militärs kontrollieren die Stadt nur tagsüber“, erzählt ein Händler. „Nachts kommen Militante von den Bergen in die Stadt und machen Jagd auf Soldaten und Polizisten.“ Zahlreiche Sympathisanten unter der Stadtbevölkerung würden die Islamisten mit Lebensmitteln versorgen, bevor diese wieder in die Berge entschwänden. In Blida kursieren Gerüchte, wonach die „Modschaheddin“, wie sich die Militanten Islamisten selbst nennen, in den meisten Dörfern der gleichnamigen Provinz die eigentlichen Machthaber seien. Augenzeugen berichten von Dörfern, in denen die Islamisten auch tagsüber mit voller Bewaffnung durch die Gassen patrouillieren und dafür sorgen, daß ihre „Gesetze“ befolgt werden.

Ähnliche Berichte kommen aus dem ganzen Land. Besonders stark gruppieren sich die Islamisten jedoch in einem Gürtel aus Dörfern und Städten um Algier. In der Hauptstadt ist von „einem Gürtel des Horrors“ die Rede. Den Islamisten nützt bei der Umzingelung der Kapitale die Geographie der Region. Algier befindet sich am Fuß einer zerklüfteten Bergkette. Der an manchen Stellen bis zu 200 Kilometer breite Gebirgsstreifen bietet ein ideales Rückzugsgebiet. In den Bergen trainieren die Islamisten für ihre Anschläge und Attacken. Die algerische Armee hat mehrfach die Luftwaffe eingesetzt, um Stützpunkte der Islamisten zu bombardieren.

Aber auch in der Hauptstadt selbst sind die Islamisten präsent. Besonders in den Armenvierteln haben GIA und MIA viele Mitstreiter. Das Militär traut sich nur tagsüber und nur in großen Trupps in diese Quartiere. Der FIS nahestehende Beobachter in Blida sprechen von einer Doppelstrategie. Zum einen solle das Militär durch Anschläge in der Hauptstadt geschwächt und demotiviert werden, zum anderen würde der Gürtel immer enger gezogen, „bis zum Einmarsch nach Algier“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen